Im Magnetband-Untergrund: Tapes in der DDR

Kaum jemand kennt die DDR-Kassettenszene besser als Ronald Galenza, Redakteur beim RBB-Jugendradio Fritz. Der 50-Jährige war von 1981-83 Mitglied der Punkband JÄHzorn und 1986 einer der Gründer der Independent-Disco X-Mal. Er hat beim DDR-Jugendradio DT 64 gearbeitet und Bücher wie „Spannung. Leistung. Widerstand – Magnetbanduntergrund in der DDR 1979-1990“ veröffentlicht. Er taucht in Filmen auf, wie in in „Elektrokohle (Von wegen)“ und er betreibt die großartige Internetseite beat-poet.de, auf der Soundtrack-Ost-Videos, Feeling-B-Musik und Links zum Parocktikum-Podcast (Parocktikum war die hipste Musiksendung von DT 64) archiviert werden.

Das klingt alles nach einem „geraden Weg“, doch der war steiniger als vermutet. Ronald Galenza hat in Leipzig Journalistik studiert, nach eigenen Angaben „unerträglich, nur Agitation und Propaganda“. Danach ist er ausgestiegen, „weil man als junger Student in der DDR auch verplant wurde – da gab’s die so genannte Absolventenlenkung, und die haben gesagt, wo du hinmusst, also nach Cottbus, Erfurt, Wismar oder Posemuckel, da musstest du drei Jahre arbeiten. Da habe ich gedacht: Ja Kinder, ich bin Berliner, leckt mich am Arsch, ich geh nirgendwohin. Das hat mir meine Kader-Akte zerstört.“ Deshalb arbeitete er als Briefträger, als Anstreicher, als Obstpresser. „Und dann bin ich in der evangelischen Kirche gelandet.“ Im FDJ-Kreisjugendclub „Pablo Neruda“ initiierte Galenza Mitte der Achtziger mit einem Kumpel X-Mal, den ersten Punk/Wave-Club Ostberlins: „Natürlich mit Kassetten. 250 Leute passten rein, 300 waren immer drin und tanzten zu The Clash, den Pogues und Nick Cave.“

John Peel wurde direkt aus dem Radio aufgenommen. West-LPs waren teuer, kosteten hundert Mark, Doppel-LPs auch mal 240. Eine DDR-LP war für 16,10 Mark zu haben, die Kassetten für 22, später 20 Mark, Chromdioxid-Kassetten brachten es auch stolze 30 Mark. Eine einfache Wohnung am Prenzlauer Berg kostete damals 50 Mark Miete im Monat. „Im X-Mal haben wir ORWO-Ostkassetten aufgelegt, mit zwei Decks. Vorhören ging nicht. Skippen, Scratchen – alles nicht möglich. Zählwerke gab’s an den Geräten schon, und dann wusstest du, bei 7:32 Minuten fängt The Clash an, ‚London Calling’. Aber mal haste die Stimme von John Peel noch draufgehabt, dann fiel ein Bier um, oder du hattest Bandsalat, während alle schon beim Pogo waren und dann kam plötzlich nix.“

Nachdem er DT64-DJ Lutz Schramm während des Auflegens kennen lernte, („der fragte, ob er sich ein paar Kassetten von mir überspielen dürfe“), gehörte Ronald Galenza selbst schnell zur DT64-Posse. Er produzierte Musikfeatures, las die Spex und hörte sich durch den Londoner Underground, um bloß nicht aus Versehen mit irgendwelchen offiziell gefördertem „Ostrock-Müll“ wie Puhdys, City oder Karat in Berührung zu kommen.

„Wer Westverwandschaft hatte, hat sich Platten aus dem Westen besorgt. Meine Oma ist ’69 aus der DDR rübergezogen nach Düsseldorf und anfangs hat die normale Rockplatten geschickt und war dann irritiert, als ich statt Doors und Beatles dann The Clash, Sex Pistols und The Residents bei ihr geordert hatte. Von der Post wurde natürlich alles aufgemacht und zensiert. Es gab eine Zollkommission mit zwei Oberzöllnern, Generälen, dazu einer von Amiga und einer vom staatlichen Rundfunk – und die haben dann teilweise die Platten für sich genommen, damit sie im Ostradio auch mal was Frisches spielen konnten.“

DT64 mit seiner beliebten Underground-Sendung Parocktikum war ab 1986 ein politisch gewolltes Ventil, weil den Funktionären die Jugend weglief. Seit Jahren hatte sich eine neue Szene gebildet, aus Punks, New Wavern, Free-Jazzern, A.R. Penck hatte eine Malerband, es gab progressive Literaten wie dem späteren Ingeborg-Bachmann-Preisträger Peter Wawerzinek, alle vereint unter dem großen Slogan: „Stirb nicht im Warteraum der Zukunft!“

„In zufälligen Gruppenkonstellationen ging es um analoge und digitale unipolare Schaltkreise, Transistorenkunde und optoelektronische Bauelemente“, schreibt Ronald Galenza in seinem Buch über die einstigen Daten-Dandys und Tape-Täter, zu denen er sich auch zählen durfte.

„An einem Tisch voller Rotwein und Schmalzstullen hockten: Megohmmeter, Güteprüfspule, Thomsonbrücke, Universalfilter, Echtzeitanalysator, Pegelschreiber, Rauschgenerator, Systemgehäuse und Induktivitätsmessbrücke, die ganze Rasselbande. Es entwickelte sich schüchtern eine Tape-Cover-Kultur. Waren die ersten Kassetten meist nur mit schlichten Fotos ausgestattet, entwickelte sich bald eine vielfältige Bildsprache aus Siebdruck, farbigen und übermalten Fotos, Originalzeichnungen, fototechnischen Reproduktionen oder Collagen und Montagen.“

Bands wie Klick & Aus entstanden, deren erstes Tape „AIDS delikat“ 1984 für Verwirrung sorgte. „Denn Aids war damals eine Art mystische Erkrankung, eine Strafe des Himmels. Eine Seuche, deren Herkunft völlig unklar war“, wird Klick & Aus-Bandleader Thomas Roesler (Künstlername Thom die Roes) in „Spannung. Leistung. Widerstand“ zitiert.

„Es war eine diffuse und tödliche Bedrohung und: sie kam aus dem Westen. So war es Subkultur und unsichtbarer Terrorismus par excellence. Dem gaben wir das Beiwort delikat dazu, das eine Anspielung auf die DDR-Delikat-Läden war. Dort gab es das Feinste vom Feinen, und ebenfalls aus dem Westen. Wir hatten 100 Kassetten herstellen lassen, und die als Erste für 30 oder 40 Ostmark verkauft.“ Das war natürlich ein Sakrileg. Kassetten verkaufte man nicht, die wurden verschenkt. „Tohm di Roes hat das einfach gemacht, weil er anders sein wollte, auffallen“, sagt Ronald Galenza. „Deshalb dieser Tabubruch: um alle zu ärgern. Damit war der Bann gebrochen. Plötzlich wollten alle Geld dafür haben. Dabei ging es allerdings nur um die Kosten. Damit war dein noch Rekorder nicht bezahlt.“

Thomas Trötsch von der Undergroundband Die Firma (nicht zu verwechseln mit den Rappern aus Köln) erinnert sich im gleichen Buch daran, welche Auswirkungen diese Kostenlos-Mentalität nach der Wende hatte: „Als die Mauer aufmachte und wir im Eimer [ein Nachwende-Club in einem besetzten Haus in Berlin-Mitte, d. A.] die Musik-Sachen gemacht haben, kamen die aus dem Westen und ich hab denen das Gras immer geschenkt, bis ich mitkriegte, dass die sonst dafür einen Haufen Kohle bezahlen. Dann habe ich das für sechs Mark verkauft, riesige Tüten.“Damals hat Thomas Trötsch auch angefangen, neben der Musik mit der Band für sich selbst zu basteln, hat Papier unter Löschkopf des Kassettenrekorders gelegt und noch mal draufgesungen oder mit dem späteren Rammstein-Keyboarder Christian „Flake“ Lorenz Anti-Scratching gespielt: „Plattenspieler mit Creme-Dosen drauf und angeritzte Platten, damit sich die Stellen wiederholen.“

Das erinnert an die musikalischen Scratch-Anfänge, die Friedrich Kittler in „Grammophon, Film, Typewriter“ beschreibt: „Im Gefolge Mondrians und der Bruitisten, die das Geräusch in Literatur und Musik einführen wollten, schlug Moholny-Nagy bereits 1923 vor, aus dem Grammophon als aus einem Reproduktionsinstrument ein produktives zu schaffen, so daß auf der Platte ohne vorherige akustische Existenzen durch Einkratzen der dazu nötigen Ritzschriftenreihen das akustische Phänomen selbst entsteht.“ Flake, damals bei den Punkrockern von Feeling B und der Magdalene Keibel Combo, hat Taperecording-Sessions veranstaltet, mit einem Casio-Synthesizer, der gerade mal zwanzig Presets anbieten konnte. Zwei Songs von damals – „Herzeleid“ und „Feuerräder“ – sind zehn Jahre später dann auf einer Rammstein-Single erschienen.

Mitte der Achtziger lockerte der Staat den Zugriff etwas, die bis dahin illegale Kassettenproduktionen wurde nun toleriert, außerdem waren so genannte Einstufungen leichter zu kriegen. „Jeder, der auftreten wollte, brauchte ja eine staatliche Genehmigung“, sagt Ronald Galenza. „Dazu musste man vor einer Kommission vorspielen – da war in der Regel immer ein FDJ-Sekretär drin und irgendwelche Kulturarbeiter; das konnte ein oller Jazzer sein, der schon sechzig Jahre alt war, oder ein Kulturhaus- oder Jugendclub-Leiter oder ein anderer verdienter Kulturmensch. Die durften oder mussten das beurteilen, ob man das überhaupt der Jugend des Landes zumuten könne. Dann gab es dann vier Stufen: Grundstufe, Mittelstufe, Sonderstufe und Sonderstufe mit Konzertberechtigung. Und danach wurden die Bands bezahlt. Das war immer gleich mit Geld verbunden.“

Für die Mittelstufe gab es 1,50 Mark pro Stunde – das reichte für drei Bier. Da zu dieser Gage noch Zuschläge kamen, die sich entsprechend der Entfernungskilometer und dem Gewicht der angekarrten PA berechneten, entwickelte sich in der DDR eine Boxenbauer-Szene, die sich auf extrem schwere Anlagen spezialisierte, damit man ins Formular eintragen konnte: Anreise 400 Kilometer, Anlage zweieinhalb Tonnen – „dann hast du Geld verdient, aber nicht mit deinem eigentlichen kreativen Schaffen, mit deiner Musik, deinen Liedern und deinen Texten“.

Tantiemen konnte man abschreiben, weil es die Musik der Underground-Bands nicht auf Platte gab. Die erste Szene-Scheiben waren die Split-LP eNDe – ND wie in Neues Deutschland – und „Live“ in Paradise.

„Die Aufnahmen wurden in den Westen geschmuggelt und Dimitri Hegemann hat die auf Aggressive Rockproduktionen rausgebracht. Davon kamen nur sehr sehr wenige Exemplare überhaupt zurück in den Osten – ich glaube von der eNDe gab’s ein oder zwei in der DDR. Da sind auf der einen Seite Zwitschermaschine drauf, eine Band aus Dresden, und auf der anderen Seite steht Sau-Kerle. Die Abkürzung SK stand für Schleim-Keim aus Erfurt. Die hatten sofort eine Hausdurchsuchung. Die Mutter hat die Texte gleich hinter die Schrankwand geschmissen, damit die nicht gefunden werden. So eine Schrankwand wurde in der DDR nämlich nicht abgerückt, sonst wäre die nie wieder zusammenbaubar gewesen.

Für die Szene gab es nur die Kassette, um sich untereinander auszutauschen, „Kassetten als Kassiber“ (Susanne Binas-Preisendörfer). An offizielle Amiga-Veröffentlichungen war nicht zu denken: „Diese Bands haben nachts Session gemacht, mitgeschnitten und ihren Freunden, noch glühend, gegeben“, sagt Ronald Galenza. Auf diese Art haben sich Musiker oder andere kreative Leute untereinander informiert. Allerdings gab es keinerlei Verwertungsmöglichkeiten, keine Rezensionen, keine Fanzines, keinen Markt, gar nichts. Dafür eine Super-8-Filmszene, die ohne Ton drehte, der musste separat erzeugt werden. „Die haben dann bei befreundeten Musikern Kassetten mit bösem Punkbeat oder getrötetem Saxophon bestellt und als Filmsoundtrack benutzt.“

Ein weiteres Problem war die Hardware, weil ebenfalls erst sehr spät anständige DDR-Recorder auf den Markt gelangten. „Ein Freund in Karl-Marx-Stadt, Frank Bretschneider von AG. Geige, hat seine Plattensammlung verkauft und 8000 Ostmark für neue technische Geräte aus dem Westen ausgegeben – um überhaupt arbeiten zu können.“ Dann haben Bands angefangen, eigene Kassettenlabel zu gründen: Frank Bretschneider und AG.Geige machten klangFarBe, die Berliner um Ornament & Verbrechen und Aufruhr zur Liebe Assorted Nuts. Jena hatte Hinterhofproductions, „von einem Typ, der sich Kaktus nannte“.

In „Wir wollen immer artig sein … Punk, New Wave, HipHop und Independent-Szene in der DDR von 1980 bis 1990“ erinnert die Oldenburger Musikprofessorin Susanne Binas-Preisendörfer an Holger Roloff, den Promoter von Trash Tape Records, der 1987 auf einen Schreibmaschinen-Flyer schrieb: „Trash Tape Record … das erste Independent-Label unserer DDR für Punk, New Wave, Avantgarde, Psychedelic, Trash und andere subkulturelle Klänge – nur für Underground-Productions – Trash Tape Records – gegen Intoleranz, Passivität und Massenverdummung!!“ Holger Roloff hat als erster einen Kassettenvertrieb gegründet. „Vertrieb klingt so groß“, sagt Galenza, „aber der hat von ’86 bis ’89 insgesamt 25 Tapes editiert und vertrieben. Du konntest also dahin schreiben und dann hat der Dir die geschickt. Da musstest du entweder in Portowerten bezahlen, also in Briefmarken, oder du konntest ihm das auch überweisen.“

In den Jahren davor war es gefährlich, Kassetten, zum Beispiel mit Konzertmitschnitten, zu vertreiben, was aber dennoch unter der Hand gemacht wurde, entweder direkt oder über Künstlerzeitungen, die in Kleinstauflagen erschienen und manchmal Kunst-Kassetten beilegten: „Da hat zum Beispiel ist der Dichter Bernd Papenfuß rezitiert und zwei Punkgitarristen haben ihn sehr rotzig dazu begleitet. Manche Tapes waren auch trockene Lesungen, also Musik war gar nicht der Schwerpunkt. Nur eine Edition, A 13 aus Karl-Marx-Stadt, die haben auch Avantgarde-Jazz auf Tapes gespielt. Irgendwann hat Amiga gemerkt, wie verschlissen und verbraucht ihr Name ist und hat dann ein Sublabel gegründet, Zong, auf dem Künstler-Alben erschienen, von Die Vision, Sandow, Die Art. Aber das war schon 1990. Amiga wurden sehr schnell von der Treuhand eingemeindet und verkauft. Das Erbe liegt jetzt bei Bertelsmann/Sony. Das war alles Volkseigentum und gehört jetzt einem japanischen Konzern…“

Ronald Galenza ist der Kassette auf nostalgische Weise treu geblieben: „Ich habe meine Kassetten noch und natürlich auch einen riesigen Fundus an alten Ostkassetten, die ich jetzt nach und nach digitalisiere, bevor sie zerfallen. Kassetten sind Goldstaub, die kann ich nie wegschmeißen, gerade diese DDR-Editionskassetten von Bands, das sind ja für mich jetzt doch Kultgegenstände und auch Zeitdokumente. Ich habe auch viele meiner Radiosendungen damals auf Kassette aufgenommen, bevor wir dann zum Ende der DDR schon DAT-Geräte hatten. Aber damals war Kassette ja noch das Zentralmedium für alles und ich habe Features und andere inhaltliche Sendungen gemacht – so konnte man die Tapes einfach den Kumpels vorspielen. Die höre ich mir manchmal in einer melancholischen, dunklen Stunde an, so kann ich meine Jugend rauschen hören.“

Dieser Text ist 2011 erschienen in: „Kassettendeck. Soundtrack einer Generation“ (Eichborn) von Christian Vorbau und Jan Drees

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