Lit Cities: Reiseführer für Leser

Bereits im Gilgamesch-Epos zieht der Held durchs Gelände. Von der Odyssee Homers über die Aventiuren des Mittelalters bis jetzt reichen die literarischen Reisebilder. Vielseitig und tief soll der Literaturatlas werden, sagt Lukas Kubina, einer der Gründer von Lit Cities (hier) Die Internetseite aus München ist vor drei Wochen online gegangen und verbindet auf besonders schöne Weise literarische Geschichten mit fernen Orten.

Lit Cities schaut nach Veröffentlichungen, in denen der Topos wichtig wird: das nigerianische Lagos kommt hier zusammen mit Chinua Achebes „Alles zerfällt“, Venedig mit der berühmtexten Novelle Thomas Manns: mit dem „Tod in Venedig“ oder auch Istanbul mit Jörg Fausers „Rohstoff“ (gerade neu aufgelegt vom Diogenes-Verlag, Zürich).

Lukas Kubina, Sie sind einer von zwei Initiatoren von Lit Cities. Wie kam es zu dieser Idee? Es war eine persönliche Geschichte. Ich war zu der Zeit beruflich regelmäßig in Tel Aviv. Ich habe damals für die DLD Conference das Programm geplant. DLD ist eine innovations- und Technologiekonferenz, die einen deutsch-israelischen Ursprung hat. Und auf einer der Reisen habe ich beschlossen, vier Tage Urlaub in Istanbul auf dem Rückflug dranzuhängen, allerdings alleine – meine Freunde hatten immer nur abends Zeit. So hatte ich als Reisegefährten nur Pamuks Istanbulbuch dabei. „Nur“ führt in die Irre. Es war vielleicht eine der schönsten Arten, eine Stadt zu erlesen. Mit diesem Buch habe ich also die vier Tage in Istanbul verbracht, die knapp tausend Seiten zwar nicht dort geschafft und das Buch dann auch später nicht mehr zu Ende gelesen, da es mir in München nicht mehr so gefiel, aber die Idee wurde das erste Mal erlebt, nämlich wie schön es ist, mit Büchern durch die Stadt zu streifen und hinter das zu schauen, was der normale Reiseführer anbietet: Sehenswürdigkeiten, Restaurants… All das verschwindet durch den literarischen Blick. Man sieht dahinter, man erkennt, oder meint zu erkennen, welche Geschichten sich hier abgespielt haben könnten, oder abgespielt haben. Man hat eine ganz andere Assoziation, einen anderen Zugang zu den Leuten und zu der Geschichte der Stadt – das war die Erfahrung und der Beginn meiner Reise mit Lit Cities. Das ist jetzt sechs, sieben Jahre her. Diese Idee hatte ich immer wieder in mir, auch bei anderen Reisen, bei anderen Romanen. Schließlich habe ich meinen Partner, mit dem ich jetzt gemeinsam Lit-Cities.com mache gefragt – David Hirtz, ein Programmierer – ob er Zeit hat und Kapazitäten, das umzusetzen.

Man würde schnell vermuten, dass auf Lit Cities BuchhändlerInnen oder LiteraturkritikerInnen Bücher mit Städten verbinden; doch bemerkenswerter Weise setzt sich Ihr Team aus anderen Menschen zusammen, von der Spieltheoretikerin Jennifer Jacquet bis zum Innenarchitekten Rainer Sladek. Wie haben Sie Ihr Lit Cities-Team akquiriert? Und welche je unterschiedlichen Sichtweisen bringen diese verschiedenen Menschen hinein? Wir haben begonnen, unsere Freunde zu fragen, unsere Freunde in unserem Netzwerk und Bekannte. Die verschiedenen Personen, die diversen Charaktere, die Sie gerade beschrieben haben, eint letztlich dreierlei: sie haben sicherlich die Liebe zum Buch ins sich. Sie reisen viel, meist beruflich. Und drittens: Sie haben einen prägnanten Beruf, der in einem kurzen Steckbrief auch für Leute, die nicht mit diesen Personen vertraut sind, schon einen Mehrwert schafft. Eine Spieltheoretikerin macht neugierig, genauso wie ein Innenarchitekt. Man kann sich ungefähr vorstellen, was deren Blick sein könnte, und das war der Anfang, so haben wir die Freunde und Bekannte im Netzwerk gebeten, sehr persönlich Bücher zu empfehlen, zu den Städten, die sie sich selbst erlesen haben. In einem zweiten Schritt bitten wir diese, weitere Freunde zu fragen, sodass das Netzwerk sich immer weiter ausbreitet. Die Idee dahinter ist, dass unsere Bibliothek auf dem digitalen Literaturatlas möglichst tief und vielseitig ist. Das war unser Ansatz, um eben darauf hin zu arbeiten.

Da Sie bereits nach drei Wochen zahlreiche Städte und Bücher miteinander verbunden haben, Herr Kubina, Sie also eine schöne Auswahl schon jetzt haben: Welches Reiseziel würden Sie mit welchem Buch auf ganz besondere Weise empfehlen? Hier würde ich Italo Svevos „Zeno Cosini“ vorschlagen. Als ich das Buch das erste Mal in die Hand genommen habe, hatte es mich direkt gepackt, und ich bin nach Triest gefahren. Dort steht auch eine Statue von ihm, genauso wie Sigi Sommer in München. Als sein Buch erschien, ein irrsinnig komisches Buch, das bereits nach der k.u.k-Zeit in Triest, also schon nach dem ersten Weltkrieg in Italien spielt. Der ganze Hype der Psychoanalyse wird vorweggenommen wird, und Svevo wandert mit einem wahnsinnigen Witz durch diese Stadt, berichtet sehr komisch von seinen Misserfolgen und seinem persönlichen Scheitern.

Wo Sie gerade Triest ansprechen; es gibt ein Buch von Hartmut Lange, das heißt „Die Bildungsreise“ in der ein Held auf den Spuren von Johann Joachim Winckelmann reist, auch bis nach Triest. Dort ist Winckelmann, der erste Kunsthistoriker Deutschlands, erstochen worden. Deshalb gibt es zu Triest durchaus auch ein Buch, mit dem man sich diese schöne Stadt geradezu verderben könnte. Gibt es eine andere Stadt, bei der Sie sagen würden: da auf keinen Fall das Buch, das in dieser Stadt spielt, mitnehmen, weil das den Urlaub kaputtmachen würde? Ich glaube, für die Stadt, die ich Ihnen nennen werde, gibt es ohnehin eine Reisewarnung, auch ohne Literatur. Hier würde ich das Meisterwerk von Roberto Bolaño, „2666“ nennen. Das ist ein fünfteiliger Roman, und gerade der vierte Teil handelt explizit von einer Stadt, die dort Santa Teresa genannt wird, in Wirklichkeit aber Ciudad Juárez ist, und die barbarischen und schrecklichen Frauenmorde, die dort stattfanden, und immer noch stattfinden, thematisiert.

Wir könnten nun leicht Hörer verlieren, denn eine weitere Stadt, direkt aus der Nähe von Köln, kommt ebenfalls auf wenig schmeichelhafte Weise vor in „2666“, und das ist Solingen. Nun ist Ihre Seite seit drei Wochen online – Lukas Kubina, wie wird es weitergehen? Werden neue Leute hinzukommen? Wer darf mitmachen? Wie soll dieses Projekt wachsen? Also die eine Sache ist, dass wir ständig daran arbeiten werden, unsere Bibliothek zu vertiefen, durch die persönlichen Empfehlungen, sodass das Netzwerk immer dichter wird, Leute aus den verschiedensten Lebensläufen und Winkeln der Erde zusammenkommen und Bücher empfehlen. Auf der anderen Seite wollen wir vermehrt einen lokalen Mehrwert schaffen, nicht nur für die Buchempfehlungen in (beispielsweise) Berlin, sondern eben auch eine Einbindung der lokalen Buchhändler ist geplant, also mit „Ocelot“ oder dem „Hopscotch Reading Room“ von Siddhartha Lokanandi. Die wollen wir fragen, ob sie nicht auch auf der Seite einen Platz finden wollen.

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