Linkradar: Hannah Arendt, avenidas und ein Maulwurf mit Pudelmütze

#97 In der Belletristik-Bestsellerliste ist Simon Strauß’ „Sieben Nächte“ Aufsteiger der Woche geworden und von Platz 96 auf 71 gestiegen, was ein kleiner Trost sein könnte für das, was Debatte genannt wird, aber einfach nur schlecht recherchierter, grob sinnentstellender Journalismus war – hier vielleicht abschließend ein Beitrag aus der Süddeutschen Zeitung. Das Beitragsbild ist aus dem Jahr 2014 und zeigt u.a. das Plakat zu einer Lesung mit Linus Volkmann, das wegen Unwetters (!) damals ad hoc abgesagt werden musste.

Starke Meinung von Enno Stahl auf Facebook: „Unfreiwillig komisch, wie die Jünger*innen der identitätspolitischen Postmoderne jemanden wie Eugen Gomringer, der eigentlich niemanden mehr interessiert, dessen Werk, wie die konkrete und visuelle Poesie insgesamt, kaum mehr als eine Randglosse der Literaturgeschichte ist, ins Zentrum des Diskurses setzen, ihm also nachträglich eine Brisanz andichten, die es niemals besaß – Beschäftigungstherapie, die einmal mehr die eigentliche, die soziale Frage, ob in Literatur und Gesellschaft, erfolgreich verbirgt und einhegt.“ (Foto: Kirsten Adamek) Die Welt schreibt: „Trotz internationaler Kritik will die Alice-Salomon-Hochschule in Berlin ein angeblich sexistisches Gedicht an ihrer Fassade übermalen“ und Springer kommt heute mit dem Coup: „Die 20 Worte des Schweizer Dichters Eugen Gomringer (93) sind in großen Buchstaben auf der LED-Wand des Axel-Springer-Hochhauses zu lesen. Pure Poesie in der spanischen Originalsprache.“

Der Trend geht zum Zweitbuch Die Süddeutsche Zeitung veröffentlicht eine Börsenblatt-Statistik, die zwei Zahlen gegenüberstellt, nämlich den in Deutschland gesunkenen Umsatz mit Büchern (zwischen 2013 und 2016 um 65 Millionen Euro), und die Zahl der Käufer von 36 auf 30,8 Millionen. Zudem wurde gerade vermeldet, dass Michael Wolffs Trump-Enthüllungsbuch „Fire and Fury“ eine Millionen mal vorbestellt worden war und E-Books in sechsstelliger Höhe heruntergeladen wurden. In Deutschland reichten 2500 verkaufte Bücher in einer Woche, um auf die SPIEGEL-Bestsellerliste zu kommen. Das klingt alles schockierend, aber via Facebook klärt Hanser-Verleger Jo Lendle auf: „Mit diesen Verkäufen stünde ein Belletristik-Titel aktuell ca. auf Platz 30. Zudem ist es Anfang Januar deutlich einfacher, vorn auf die Liste zu kommen. Ein Sachbuch, das das ganze Jahr 2018 über auf Platz 4 der Hardcover-Liste stünde, hätte über einen ziemlich großen Daumen gepeilt am Ende sicherlich 150.000 Käufer gefunden.“

Pausenvideo

53 Jahre alt ist das Video mit Hannah Arendt, aber plötzlich ist es ein YouTube-Hit. Das Fachmagazin Chip klärt hier auf: „Der Forscher Manuel Menke hat sich in seiner Dissertation mit Mediennostalgie beschäftigt. ‚Ich würde sagen, dass es ein grundsätzliches Bedürfnis gibt, sich mit Medien der Vergangenheit zu beschäftigen‘ (…) Ganz schnell gehe diese Medien-Kritik in eine Kritik am gesellschaftlichen Wandel im Allgemeinen über, sagt Menke. Leute diskutieren darüber, dass man damals ja noch rauchen durfte und sich vermeintlich weniger um Political Correctness scherte. Zeitdokumente à la Arendt werden zu Stellvertretern (…) und ein bisschen romantisiert.“ Zugleich ist ihr gerade entdeckter Essay „Die Freiheit, frei zu sein“ ein Bestseller – aus dem Stand. Für den „Büchermarkt“ sprach ich hier mit Thomas Meyer, der Philosophie an der Ludwig-Maximilians-Universität in München lehrt und das Nachwort verfasst hat.

Konsuminventur

Laut einer McKinsey-Studie hat sich die weltweite Textilproduktion seit 2010 verdoppelt. Wie gut, dass der Kaffeeröster Tchibo und das Magdeburger Start-up Relenda miteinander kooperieren, wie die taz hier berichtet: „Über die Webseite tchibo-share.de können Kunden ab dem 23. Januar Baby- und Kinderkleidung von Tchibo auswählen, sich zusenden lassen – und zurücksenden, wenn sie sie nicht mehr benötigen. (…) Ein Strampler von Tchibo in den Größen 74 bis 92 kostet etwa 1 Euro pro Monat, eine Regenjacke in den Größen 110 bis 152 rund 4 Euro.“

Buch der Woche

Wie hingetupft sind die weißräumigen Bilder von Sang-Keun Kims melancholischem Bilderbuch „Wenn du eine Sternschnuppe siehst, wünsch dir was“, das im Schneegestöber spielt und von einem kleinen, pudelmützigen Maulwurfkind erzählt. Dieses Maulwurfskind hat von der Oma gelernt, dass man Sorgen in Schneebälle einrollen kann. Der Kleine baut sich aus dieser Kugel einen imaginären Freund, einen Bären, der aber zu groß geraten ist, um in den Omnibus mitgenommen zu werden. Die dann stetig traurigere Geschichte hat zum Glück ein helles Ende – und rührt, als Story, als Bilderreigen und als Meditation über das Poetische. (Sang-Keun Kim: „Wenn du eine Sternschnuppe siehst, wünscht dir was“, aus dem Koreanischen von Kyong-Hae Flügel, Beltz & Gelberg, 48 Seiten, 13,95 Euro)

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