Rezension: Lindenblüten, Belle & Sebastian

Die 25-jährige Sabrina Janesch begeistert mit ihrem genussvoll komponierten Romandebüt „Katzenberge“ – langsame Lektüre für dunkle Herbsttage. „Diesem Buch sind viele Leser zu wünschen“, sagt kein Geringerer als Literatur-Nobelpreisträger Günter Grass.

Nele tritt auf der ersten Seite ins Freie. Das ist immer ein gutes Zeichen, wenn Geschichte mit einem Anfang beginnen: hier ist es der Morgenanfang. Der schlesische Nebel liegt über den Feldern des Katzengebirges, eine schlafwandlerische Stimmung, und Nele erinnert sich an die gestrige Tauffeier – noch so ein Anfang – als die ganze Familie zusammensaß, bis spät in die Nacht hinein. „Auf dem Höhepunkt der Feier hatte sich Onkel Szymek die Kartoffelsalatschüssel wie einen Helm auf den Kopf gesetzt – ohne zu sehen, dass sie noch nicht ganz leer war –, sich auf die geschwollene Brust geschlagen und in meine Richtung deklamiert: Sattel das Pferd, wir reiten zurück in die Ukraine, nach Galizien. Dann war ein großer Klecks Mayonnaise auf seine Nase getropft, und seine Frau Gosia hatte es mit einem Stück Bratkartoffel weggestippt.“

Auf den ersten Seiten sind die meisten Dramen späterer Kapitel angelegt: Es geht in „Katzenberge“ um Familie, nicht um irgendeine, sondern um die osteuropäische Großfamilie schlechthin. Es geht um eine zurückgelassene Heimat, deshalb auch um ganz viel Sehnsucht und dann ist da noch die überaus charmante Nele, eine junge Journalistin, die von Berlin aus für ein paar Wochen zum Katzengebirge nahe Breslau zurückkehren wird. Doch dieses Mal ist keine Tauffeier, sondern eine Beerdigung der (traurige) Anlass, weil ihr geliebter Großvater Djadjo gestorben ist.

Sabrina_Janesch_Born_Preis_2In Schlesien, nach erschöpfender Reise endlich angekommen, erfährt Nele bei viel Wodka alte, von der Vergangenheit vernebelte Geschichten über ihren Großvater, Erzählungen, die wenig mit Kartoffelsalatschüsseln und betrunkenen Reitbefehlen zu tun haben waren. Etwas Düsteres schleicht sich ein. Was vorher ein Spiel war, fixt Nele nun auf unheimliche Weise an, als werde sie gerufen. Immer noch schlafwandelnd, wie im ersten Kapitel, entschliesst sie, kopflos, weiter Richtung Osten zu reisen, obwohl ihr klar ist, dass es dort eigentlich nichts gibt, „außer Nadelwäldern und Wölfen“. (Das Bild rechts ist von Wikipedia) – Die Journalistin hat eine gute Nase. Sie spürt, dass auf der anderen Grenzseite, nicht mehr in Polen, sondern in der Ukraine, etwas auf sie wartet, auch wenn es schmerzt: die vermutlich wahre Geschichte über Djadjo.

Man ahnt die ganze Zeit, dass es eine Legende aus Kriegszeiten geben muss, als die Familie zum ersten Mal nach Westen floh (das zweite Mal siedelte Neles Mutter von Polen nach Berlin), eine Legende aus unmoralischen, furchtbaren Zeiten. Immer wieder tauchen Dämonen aus jenen Jahren auf, sie schleichen vampirartig durch die galizischen Wälder. Sie ruhen nicht. Es ist ein Schicksal so vieler auch in Deutschland lebender Familien, man kennt die Geschichten von Spätaussiedlern und einstige Trecküberlebenden, von Russlanddeutschen und schlesischen Landsmannschaften. Keine Ruhe, niemals.

„Wie Nele stamme auch ich aus einer deutsch-polnischen Familie, auch mein Großvater musste Galizien für Niederschlesien verlassen“, erzählt Sabrina Janesch, „er hat mich tatsächlich sehr mit seinem Aberglauben und seinen Erzählungen beeinflusst – sicherlich habe ich viele meiner Motive und Denkmuster ihm zu verdanken.“ Dennoch ist „Katzenberge“ kein autobiographischer Roman, das wäre der Autorin nicht zu wünschen, immerhin erzählt sie mal aus Neles, dann wieder rückblickend aus Djadjos Sicht, wie zwei unschöne Geheimnisse entschlüsselt, wie zwei enge Beziehungen (eine Liebes-, eine Geschwisterbeziehung) zerbrechen, zweimal wie es sich anfühlt, eine persönliche Katastrophe zu erleben.

Das Besondere dieses Buchs liegt nicht nur im makellosen, spiegelbildlichen Aufbau, in der handwerklichen Raffinesse, sondern auch in seiner Langsamkeit. „Katzenberge“ kann man nicht schnell lesen, es besitzt etwas Schweres, nicht im schulmeisterlichen Sinn, sondern eher wie man sich schwer fühlt nach fettem polnischen Essen oder wenn man die romantischen Gedichte des polnischen Volksdichters Adam Mickiewicz gelesen hat.

Es ist große Kunst, weil es auch einen ziemlich Abstand zum richtigen Leben der Autorin hält: „Momentan wohne ich in Münster, schaue von meinem Schreibtisch hinaus auf meinen Balkon mit Wildwuchs, wo sich Rotkehlchen, Kohlmeisen und Eichhörnchen tummeln – die ich vor meinen zwei Katzen beschützen muss, Bruno und Kasimir“, sagt Sabrina Janesch. „Wenn mein Kopf mal heiß gelaufen ist, gehe ich um die Ecke ins wunderbare, alte Programmkino Cinema Garbo – im Café dort bekommt man kühlenden Pfefferminztee.“ Passt zum Cover, das ist mintgrün und eine Teetasse gibt es auch. Noch besser wäre natürlich: Lindenblütentee und Madeleines, als Hintergrundmusik „Belle & Sebastian“.

Sabrina Janesch: „Katzenberge“, Aufbau, 272 Seiten, 19,95 Euro // Taschenbuch: abt, 9,99 Euro

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