Krankheit als Code

Wahnsinn, Traumata, Todesfälle – es gibt viele Gründe, weshalb jemand aus der Gesellschaft fällt. Katharina Bendixen erzählt in ihrem Geschichtenband „Gern, wenn Du willst“ von verwirrten Außenseitern.

Wenn uns jemand erzählt, „mitten in der Nacht geht eine Tür auf, an einer Stelle, an der vorher keine Tür war, und dann kommen Gestalten heraus, wie in einem Traum“, was denken wir dann? Oder wenn eine Frau behauptet, ihre Umwelt würde langsam von einem nebligen, sich langsam schließendem Kreis ausgelöscht? „Eines Morgens wird er die Nachbarhäuser verschluckt haben, den Bordstein vor meinem Haus und den Hinterhof mit den Fahrrädern, dann die Wände meines Schlafzimmers, meinen Kleiderschrank und die Tür, durch die ich morgens auf den Wohnungsflur trete.“

Psychiater wissen, dass Alkoholiker die weißen Mäuse, die beim Entzug Tapeten raus und runterlaufen, tatsächlich sehen. Wer einen Alkoholiker heilen will, muss diese Wahnvorstellungen akzeptieren. Er wird mit dem Suchtkranken daher reden, als gäbe es diese weißen Mäuse tatsächlich. Er wird versuchen, Lösungen für dieses Problem zu finden, sodass sich der Patient erstmal nicht fürchten muss vor den Nagetieren. Aber wie geht Otto-Normalverbraucher mit Abweichlern in seiner näheren Umgebung um? Man kann schließlich nicht jeden in die Geschlossene bringen.

Solche Korrektur- und Hilfsanstalten nehmen ohne Voranmeldung nur Selbstmordgefährdete auf. Deshalb leben die Verrückten oder die „Nicht-Normalen“ unter uns, bis ein stationärer Therapieplatz freigeworden ist. Was spüren diese „Irren in Wartestellung“? Davon erzählt der außerordentliche Kurzgeschichtenband „Gern, wenn Du willst“ von Kathrina Bendixen. Bei ihr glauben junge Frauen an imaginäre Begleiterinnen, die nur von ihnen gesehen werden können. Gerade hat sich die junge Frau von ihrem Freund getrennt, um allein zu sein, da bekommt sie mysteriöse Gesellschaft. In der gleichnamigen Geschichte gesellt sich „Das Mädchen“ zu ihr, folgt auf Schritt und Tritt: Es schubst beim Einkaufen, rollt im Schwimmbad ihr Badelaken neben der Heldin aus und rangelt sich mit ihr um zwei Euro an einem Fahrkartenautomaten. „Ich war mir nicht sicher, ob die anderen es auch sehen konnten. Manche schienen es zu bemerken, andere schauten mich merkwürdig an, als ich dem Mädchen erklärte, dass wir nicht zu zweit in eine Umkleidekabine passten.“

Ihre eigene Eltern werden ihnen fremd. Sie bilden sich ein, die Abteilungsleiterin im Betrieb sei ihre richtige Mutter. „Ihr müsst euch nicht mehr verstellen, ich weiß längst Bescheid.“ – Sie erwarten Krieg, „in drei Tagen“, und werden nicht müde, jeden zu warnen, Fluchtvorbereitungen zu treffen. Ein Mann behauptet, sich selbst im Kino gesehen zu haben. „Ich trage die Frisur, die ich vor zwei Jahren hatte, Koteletten, das Deckhaar etwas länger und aus dem Gesicht gekämmt, dazu ein weißes Hemd und die graue Krawatte, die ich nur bei Geschäftsessen umbinde.“ – Jeder hatte schonmal ein Déjà-vu. Aber nicht jeder glaubt gleich daran.

Die Weltgesundheitsorganisation WHO hat alle psychischen Krankheiten (dort heisst es weniger stigmatisierend „Störungen“) verzeichnet in seiner „International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems“. Die Krankheiten werden in diesem „ICD“ verschlüsselt. Zur Verwendung dieser Codes sind deutsche Ärzte verpflichtet. Krankenkassen dürfen niemals die tatsächliche Störung kennen, lediglich das ungefähre Bild, ausgedrückt im ICD-Code der WHO. Katharina Bendixen geht mit ihren Geschichten den umgekehrten Weg. Sie entschlüsselt diese Codes und erzählt die dahinterliegende Geschichte. Darin liegt der kriminologische Reiz ihrer Short Stories – man darf mitraten, weshalb der jeweilige Patient verkorkst, verängstigt, verwirrt ist.

Lediglich in einer Szene ist die aussichtslose Lage klar: „Wir sind die Kranken aus der Sonnenklinik, wir sind die, die alles ausprobiert haben.“ Es geht um Krebs, um Tumore, Tabletten, Bestrahlungen, um den Wochenendbesuch, wenn die eigenen Kinder toben möchten, sich aber beherrschen, aus Rücksicht auf den siechen Krankheitszustand ihrer Mutter. Hier sind Patienten aus dem Alltag rausgefallen und müssen in Therapiesitzungen hinterfragen, ob ihr Krebs möglicherweise psychisch erklärt werden kann. „Was beschäftigte Sie in den Jahren vor ihrer Krankheit? Oder haben Sie das Gefühl, dass Ihre Tumoren von früher stammen?“

Diese Geschichte ist der Schlüssel zum Verständnis der übrigen zwölf Fälle. Auf der einen Seite gibt es Menschen mit Psychosen, für die wir körperliche Erklärungen suchen. Auf der anderen Seite müssen Menschen mit körperlichen Erkrankungen, mit Krebs, nach ihrer vermuteten Psychose suchen. Die Irren bekommen Medikamente, die Krebskranken eine Psychotherapie. Beide werden abgesondert, ihre wahren Bedürfnisse von den „Gesunden“ weggeschoben. Warum denn? „Meine falschen Eltern schlugen mich selten, noch seltener nahmen sie mich in den Arm.“ Angesichts solcher Sätze ist doch vollkommen egal, ob die Abteilungsleiterin nun die wahre, oder bloss die eingebildete Mutter ist.

(Katharina Bendixen: „Gern, wenn du willst“, Poetenladen, 120 Seiten, 16,80 Euro)

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