Interview: „Zukunft verlangt leichtes Gepäck“

Der Georg-Büchner-Preisträger des Jahres 2019 heißt Lukas Bärfuss. Er wurde am 30. Dezember des Jahres 1971 im schweizerischen Thun geboren und lebt mit seiner französischen Frau und seinen drei Kindern in Zürich. Für den Büchermarkt im Deutschlandfunk sprach ich am Dienstag, dem 9. Juli mit dem Autor kurz nach der Bekanntgabe durch die Darmstädter Akademie für Sprache und Dichtung. (Das Beitragsbld ist von Wikipedia und zeigt Lukas Bärfuss auf der Frankfurter Buchmesse 2014.)

Lukas Bärfuss begann im Jahr 1998 als Dramatiker und avancierte früh zu einem der erfolgreichsten deutschsprachigen Theaterautoren. Als Erzähler debütierte Bärfuss 2002 mit der Novelle „Die toten Männer“. Sein erster Roman, 2008 erschienen unter dem Titel „Hundert Tage“, erzählt vom Völkermord in Ruanda. Der Schriftsteller wurde mit zahlreichen Preisen geehrt, darunter 2005 mit dem Mülheimer Dramatikerpreis, 2010 mit dem Hans-Fallada-Preis und 2014 mit dem Schweizer Buchpreis für seinen zweiten Roman „Koala“, in dem er den Suizid seines Bruders literarisch verarbeitet.

Die Jury begründet die nun folgende Ehrung mit dem Georg-Büchner-Preis des Jahres 2019 wie folgt. „Mit Lukas Bärfuss zeichnet die Deutsche Akademie für Sprache und Dichtung einen der herausragenden Erzähler und Dramatiker der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur aus. In einer distinkten und dennoch rätselhaften Bildsprache, karg und klar und trennscharf, durchdringen sich nervöses politisches Krisenbewusstsein und die Fähigkeit zur Gesellschaftsanalyse am exemplarischen Einzelfall, psychologische Sensibilität und der Wille zur Wahrhaftigkeit. Mit hoher Stilsicherheit und formalem Variationsreichtum erkunden seine Dramen und Romane stets neu anders existentielle Grundsituationen des modernen Lebens. Es sind Qualitäten, die zugleich Bärfuss’ Essays prägen, in denen er die heutige Welt mit furchtlos prüfendem, verwundertem und anerkennendem Blick begleitet.“

Lukas Bärfuss, in welcher Beziehung setzen Sie sich selbst und zugleich Ihr Schreiben mit Georg Büchner, dem Namensgeber des renommiertesten Literaturpreises im deutschsprachigen Raum? Büchner ist für mich einer der Autoren, die nicht nur mein Schreiben verändert haben, sondern mein Leben und meine Sicht auf die Welt. Ich erinnere mich noch genau, als ich zum ersten Mal „Dantons Tod“ gelesen habe, wie mich das angesprungen hat und wie ich nicht glauben konnte, wie es möglich ist, dass da ein Text vor mir ist, der sich so anhört, anfühlt, als würde er in diesem Augenblick gesprochen. Das ist das wesentliche Leseerlebnis bei Büchner, dass das eine Literatur ist, die eine unglaubliche Präsenz hat, in jedem Augenblick, wenn man sie liest. Und eines meiner frühen Stücke, „Meienbergs Tod“, ist eigentlich eine direkte Antwort oder ein Versuch, in eine Beziehung zu kommen mit diesem Stück. Später war es natürlich „Woyzeck“ und das Wunder und das Rätsel dieses Fragments ja eigentlich, von dem man nicht einmal die Reihenfolge der Szenen kennt, und die Frage, was es eigentlich genau ist, was uns erlösen könnte – ob es die Liebe ist oder die Wissenschaft oder doch vielleicht die Politik und das soziale Miteinander. Von „Lenz“ gar nicht zu reden, ich hatte auch eine Phase, da bin ich auch im Kopf durch das Gebirge gegangen, und der Schlusssatz bei Lenz, ich mag ihn jetzt gar nicht zitieren, aber das bleibt natürlich einer der größten Gongs und Paukenschläge der Literatur, keine Frage.

Jeder Mensch ist ein Abgrund, es schwindelt einen, wenn man hinabsieht. Auch das wissen wir von Georg Büchner, und Sie schauen ebenfalls in diese Abgründe hinein. Büchner lebte von 1813 bis 1837. Er starb in Zürich, das Ihnen, Lukas Bärfuss, wohlbekannt sein dürfte. Büchner war nicht nur Schriftsteller und Naturwissenschaftler, sondern auch Freiheitskämpfer – Ihre Arbeiten selbst werden einerseits ob ihrer poetischen Kraft geehrt, zugleich verknüpfen Sie diese poetische Kraft mit dem Politischen und dem Aktuell-Gesellschaftlichen. Auf welche Weise hat Ihre Politisierung stattgefunden, Herr Bärfuss, und welche Rolle spielten hierbei die Straße auf der einen, die Bibliotheken auf der anderen Seite? Meine Politisierung hat ursächlich mit meiner Familiengeschichte zu tun. Ich bin in höchst komplizierten Verhältnissen aufgewachsen und habe in meiner Ursprungsfamilie von frühester Kindheit an gesehen, wie das gesellschaftliche Umfeld in das Intimste hineinwirkt. Ich war dann lange ein Herumtreiber und habe auf der Straße gelebt, und da kommt man natürlich in eine ganz besondere Beziehung zur Öffentlichkeit – und was das bedeutet. Wenn man kein Zuhause hat, ist man immer draußen und ist angewiesen auf freundliche Menschen, auf die Menschenfreude und -freundlichkeit. Ich habe da gesehen, was es bedeutet, einen Beamten oder eine Beamtin als Gegenüber zu haben, der oder die nicht nur die Gesetze sind, sondern den Menschen. Meine Politisierung ist deshalb so ursächlich mit mir und meiner Biographie verbunden, dass ich das gar nicht trennen kann. Ich glaube, das sieht man auch bei Büchner. Und wenn Sie sagen der Revolutionär, ja natürlich, er ist geflohen vor den Zuständen in Hessen, zuerst nach Straßburg und dann nach Zürich. Und ich weiß nicht, wie oft ich an der Spiegelgasse vorbeigekommen bin mit meinen Kindern, und dort ist ja das ehemalige Wohnhaus von Lenin auf der linken Seite und auf der rechten Seite das Sterbehaus von Büchner, und beide haben eine Plakette. Ich habe immer gesagt, guckt mal, hier war Lenin, und der ist gar nichts, der Mann daneben, das war der große Geist. Ich glaube: auch in der heutigen Zeit sind wieder viele Menschen unterwegs und fliehen, aus welchen Gründen auch immer, und gerade Büchner sollte uns allen eigentlich eine Mahnung sein.

Eine derart wichtige Ehrung wie jene, die Ihnen nun zuerkannt wird, ist stets verbunden mit einer ersten Rückschau. Wenn man sich die Büchner-Preisträger der vergangenen Jahre ansieht, dann fällt auf, dass die literarische Gattung des Dramas unterrepräsentiert ist. Vor nunmehr 21 Jahre wurde die spätere Literatur-Nobelpreisträgerin Elfride Jelinek von der Darmstädter Jury ausgezeichnet. Ihr literarisches Schaffen beginnt mit dem Dramatischen: In welcher Weise haben Sie zur Bühne und zum Bühnensprechen gefunden? Das war eigentlich ziemlich unverhofft. Als ich mich auf die Reise machte zum Schriftstellertum, da hatte ich nicht so sehr dramatische Ambitionen. Aber auch das ist etwas, was sehr verbunden mit meiner Familiengeschichte ist, weil das Volkstheater in meiner Familie sehr gepflegt wurde, und ich die Bretterbühnen der Gasthäuser sehr früh erlebt habe. Ich habe immer die Bühne als etwas gesehen, das uns enthebt von der Schicksalshaftigkeit der eigenen Biographie, dass es nämlich die Utopie gibt, dass wir uns verändern können, etwas Anderes sein können, dass wir eine Maske tragen können und auch anerkannt werden von den anderen Menschen dadurch. Das hat mich dann früh eigentlich heimgeholt. Ich hatte eine eigene Theatergruppe in Zürich, und es war auch eine gute Zeit in den 90er-Jahren des letzten Jahrhunderts, es gab einen großen Aufbruch an den deutschsprachigen Theatern, ausgehend von der Bewegung aus Großbritannien mit Sarah Kane und Mark Ravenhill und viele andere. Dann gab es den Generationenwechsel. Das ist etwas, das einen zu dem Menschen bringt und auch in die Gesellschaft, etwas, worauf ich nicht verzichten möchte. Ich habe mich auch immer wieder erholt beim einen vom anderen, also vom Prosaschreiben im Theater und umgekehrt.

2002 folgte ihre erste Prosaarbeit, eine Novelle unter dem Titel „Die toten Männer“ – wir erinnern uns hier sogleich an die Aussage Theodor Storms, die Novelle sei die kleine Schwester des Dramas. War der Schritt hin zum späteren Roman – über den wir gleich noch sprechen werden – ein wichtiger, also: brauchten Sie die Novelle, um sich von der Bühne zu lösen? Vielleicht, ich weiß es gar nicht, ich habe mich sehr intensiv natürlich mit den verschiedenen literarischen Gattungen auseinandergesetzt. Wenn ich mich ans Schreiben mache, dann ist es nicht das, was mich beschäftigt. Mich beschäftigt eigentlich eher der Schwung, l’elan, wie es bei Stendhal heißt, die Bewegung, meine innere und die Bewegung des Textes. Und ich möchte auch im Sinne von Edgar Allen Poe, dem amerikanischen Dichter, dass man meine Texte in einem Stück liest. Ich habe es immer eine ganz unerträgliche Vorstellung gefunden, dass jemand einen Text von mir weglegt, bevor er am Ende ist. Das bedarf natürlich einer gewissen Konzentration, auch einer gewissen Kürze. Ich kann mir jetzt nicht vorstellen, dass ich einen 800-Seiten-Roman schreibe. Vielleicht wird sich das noch ändern, aber die gewisse Energie und Gedrängtheit, das entspricht mir schon.

Bemerkenswerter Weise erzählte sodann ihr Roman „Hundert Tage“ von 2008 vom Völkermord in Ruanda – und das eint Sie mit einem ihrer Schweizer Kollegen, nämlich mit dem ebenfalls vielfach prämierten Milo Rau, dessen Stück „Hate Radio“ drei Jahre später uraufgeführt wurde und ebenfalls den Völkermord in Ruanda thematisiert. Ist das Zufall, oder gibt es eine Erklärung dafür, weshalb gleich zwei in Zürich beheimatete Schriftsteller dieses Thema wählen? Ich kann das nicht für Milo Rau, den ich sehr bewundere und schätze, beantworten. Bei mir war das ein Stoff, der wiederum in meiner Kindheit und Jugend angelegt ist, weil ich in der zweiten Klasse einen Workshop hatte in der Schule, also mit acht Jahren, wo wir das Leben der ruandesischen Bauern nachempfunden haben. Wir haben Brot gebacken wie die Bauern in Ruanda und Kalebassen geschnitzt und haben dort eine Idylle präsentiert bekommen. Was mir erst später aufgefallen ist, dass das der pädagogische Wurmfortsatz des doch sehr eminenten entwicklungspolitischen Engagements der Schweizer Regierung in Ruanda war, das heißt, das war eigentlich Propaganda. Als 1994 der Völkermord in den Medien war, stellte ich fest, dass mein Bild, das ich aus der Schule hatte, überhaupt nicht übereinstimmte mit dem Bild, das mir jetzt die Medien präsentierten. Das hat mich nicht mehr losgelassen, diese unterschiedlichen Bilder und diese Frage, ob ich einer Propaganda aufgesessen sei. Die Recherche hat mich wirklich jahrelang beschäftig. Das hat natürlich viel zu tun mit unserem Land, mit der Schweiz. Aber ich weiß nicht, was es bei Milo Rau war, bei mir war es kein Stoff, den ich mir gesucht habe, der ist wirklich zu mir gekommen.

Da wird bereits beim Kriegerischen sind: in ihrem Werk taucht der Krieg in aktueller wie auch in historischer Dimension auf – immer wieder berufen Sie sich auf den von Ihnen hoch geschätzten Heinrich von Kleist. Ihre neueste Veröffentlichung, ein Essayband, der auch hier im Büchermarkt sehr lobend besprochen wurde, trägt den Titel „Krieg und Liebe“. Was reizt sie an der gewalttätigen Auseinandersetzung? Ich mag eigentlich, dass Verb „reizen“ nicht, oder nur in diesem Sinne, dass die Gewalt eine Konstante ist. Was ist das, was in uns lügt, hurt, stiehlt und mordet, so heißt es in „Dantons Tod“. Was ist es eigentlich, was uns in diese Gewalt hineintreibt, was uns fasziniert auch daran, was uns diese Lust verursacht? Das ist miteinander verbunden, wir können das eine nicht ganz vom anderen trennen, und den Schrecken über uns selbst. Die Literatur, die abendländische, beginnt mit dem Wort „Zorn“ bei Homer. Der Krieg und das Kriegshandwerk und die Soldaten sind ganz oben gezählt in der Literaturgeschichte. Das ist etwas, was mich zutiefst beunruhigt, warum das so ist, ob es dort einen inneren Zusammenhang gibt. Einige der Autoren, die ich am meisten schätze, haben eine kriegerische Vergangenheit. Sie nennen Kleist, das war ein Kindersoldat und früh traumatisiert, gerade bei der Belagerung von Mainz. Stendhal gehört dazu, war auch ein Soldat. Tolstoi war ein Soldat. Ich fühle eine Verantwortung, diesen Zusammenhängen auf die Spur zu kommen, um sich vielleicht – das bleibt die Utopie nach Platon ­– aus diesen Zusammenhängen lösen zu können. Vielleicht braucht es keine Literatur mehr, wenn wir uns von der Gewalt befreit haben.

Es gibt andere Dinge, von denen wir uns gerade auch befreien mehr und mehr – und zwar vom Patriarchat. Welche Rolle spielt in dem Kriegs- und Liebesspannungsfeld, das Sie immer wieder aufmachen, dieses sich auflösende Patriarchat. Dazu hatten Sie eine sehr avancierte Meinung. Das ist natürlich ein weites Feld. Ich bin gar nicht sicher, ob es sich auflöst oder ob es nur eine neue Form annimmt. Ich habe nach wie vor nicht im Geringsten das Gefühl, dass ich, gerade in der Schweiz, in einer gleichberechtigten Gesellschaft lebe, dass wir dieselben Möglichkeiten hätten, dass wir immer noch reduziert werden auf irgendeine doch sehr willkürliche Identität, und dass wir noch lange Zeit brauchen, bis wir das überwunden haben. Sicher ist auch, dass nicht nur diese patriarchalen, bürgerlichen Formen gerade in einer Krise sind, sondern viele andere auch. Ich glaube, wir haben nur eine Möglichkeit, das ins Positive zu wenden, wenn wir versuchen, uns klarzumachen, was wir behalten wollen, was wir übernehmen wollen aus unserer Tradition, was wir beschützen wollen, was wir weitergeben wollen, gerade auch in der Literatur, weil die Reise in die Zukunft verlangt leichtes Gepäck. Ich glaube, gerade unsere Generation hat die Aufgabe, jedes einzelne Werk zu prüfen und sich die Frage zu stellen, was es uns noch bedeutet. Das betrifft nicht nur die literarischen, sondern auch die gesellschaftlichen Werke, die gesellschaftlichen Strukturen. Wenn wir das tun in aller Ernsthaftigkeit, dann könnte daraus etwas sehr Kostbares und Wertvolles werden.

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