Interview: Unterstützte YPS unwissentlich den Ku-Klux-Klan?

Bislang schrieben Reporter unsere Tageszeitungen voll, berichteten aus der 5. Fußball-Liga, tippten den Drei-Tages-Wetterbericht und erzählten vom Kaninchenzüchterverein. Das könnte bald Vergangenheit sein. Der Journalismus wird von Robotern infiltriert. Der Wissenschaftsjournalist Jakob Vicari (wir kennen uns schon lange) bereitet gerade ein Experiment vor: Die Sensor-Live-Reportage. Er steht damit im Finale des Formatfestivals 2015. Mehr zum Thema gibt es hier bei Bayern 2 Zündfunk und beim elektrischen Reporter. „Technische Probleme haben den Start verzögert“, sagt Jakob Vicari. „Im Formatfestival wurde der Code mit der Hilfe von Robert Schäfer komplett neu programmiert.“ Ein Gespräch. (Das Beitragsbild zeigt Jakob Vicari neben seinem Versuchsaufbau).

Du machst Roboterjournalismus – was kann man sich darunter vorstellen? Roboterjournalismus ist die aktuelle Sau, die durchs journalistische Dorf getrieben wird. Alle Journalisten zittern. Wenn man das Wort Roboter oder Algorithmus momentan sagt, dann spürt man ein leichtes Zittern, das durch die Körper geht, weil alle wie üblich vor einer neuen Technologie Angst haben und davor, dass sie ersetzt werden können. Dabei ist Roboterjournalismus fast schon alltäglich. Der mächtigste Roboter ist Google, eines der wichtigsten journalistischen Tools mit seinen Alerts, den Übersetzungen, natürlich mit der Suche. Von daher sind auch Roboter nichts, was Journalisten erst einmal Angst machen müsste. Vieles, über das wir berichten sind strukturiert vorliegende Daten. Sportberichterstattung, das Wetter oder auch investigative Recherchen wie WikiLeaks beruhen auf einer Form strukturierter Datenmassen. Roboterjournalismus nutzt die Fähigkeiten der Computer, mit großen Mengen strukturierter Daten umzugehen und diese in eine lesbare Form zu übertragen.

Gibt es so etwas schon? Man hört immer wieder von Roboterjournalismus, dass es bereits Versuche gab, Baseballspielberichte in lesbare Zeitungstexte umzuwandeln. Man geht bisher sehr schamhaft, verdeckt damit um. Wie Magazine entstehen ist für den Leser erst einmal intransparent. Das möchte eigentlich auch niemand ändern. Was genau in Redaktionen vorgeht, wie ihr Magazin, ihre Tageszeitung entsteht, das ist für den Leser unsichtbar. AFX, der Finanzdienst der Nachrichtenagentur dpa, soll sich zuarbeiten lassen, und auch der Sportinformationsdienst experimentiert mit Roboterjournalisten. Die Berliner Morgenpost hat ein ganz interessantes Experiment in Deutschland gestartet, in dem Feinstaubwerte, also Messdaten aus der Stadt, von Robotern aufgenommen und für die Leser aufbereitet werden.

Wie sehen diese Roboter aus? Es sind vermutlich keine Humanoiden, die tippend am Keyboard sitzen. Der Roboterjournalist ist tatsächlich eine Software, die Daten, deren Struktur man vorher kennt, aus Bausteinen zu einem Text montiert, wie den Verlauf eines Bundesligaspiels. Das ist relativ gut vorherzusagen, was da passieren wird, sogar die Länge steht relativ fest. Ein geübter Leser wird immer feststellen, dass das ein Computer war. Ich denke, da gibt es auch keinen Grund, das zu verheimlichen. Aber es ist eine lesbare Form und für jemanden, der die dritte, vierte oder fünfte Liga verfolgt, wo vielleicht kein Reporter mehr vor Ort ist, wo sich niemand nach dem Spiel hinsetzt und einen Bericht schreibt, da kann der Roboter vom generierte Text durchaus eine lohnende Alternative sein zu den Daten, den Passquoten, der Tore, der Anzahl der Fouls.

Gibt es Redaktionen, die aus der 5. Liga Daten bekommen und daraus Texte machen? Ich wäre davon überzeugt, auch wenn das nicht immer draufsteht und transparent gemacht wird. Ein Radiosender in Hamburg experimentiert damit, Fussballspielberichte von Robotern schreiben zu lassen. Dieses Projekt heißt „FussiFreunde“.

Ich habe im lokalen Sportjournalismus meine ersten Meriten als 15-Jähriger verdient. Werden hier nicht Ausbildungsmöglichkeiten eingespart, wenn diese Jobs von Robotern übernommen werden? Meine Überzeugung ist, dass Technologie den Journalismus in den letzten Jahren unheimlich besser gemacht hat. Investigative Recherchen sind erst durch WikiLeaks, durch Software möglich geworden sind. Datenjournalismus öffnet hier ein ganz neues Feld. Das heißt, dass der Journalismus sich neu orientieren muss. Das ist kein Geheimnis, dass der Journalismus in der Krise ist. Zeitungssterben gibt es. Das Wort der „Lügenpresse“ ist allgegenwärtig. Da muss der Journalismus eine Antwort finden. Er darf da nicht zittern, sondern er muss sich in die Gebiete wagen, die lohnenswert sind und neue Möglichkeiten bieten – und vermutlich auch alte Bastionen, die von Technologie ersetzt werden können, aufgeben. Da wird der Spielbericht aus der vierten, fünften Liga ganz sicher dazugehören. Da wird wahrscheinlich der Wetterbericht dazugehören.

Textbausteine wurden ohnehin stets verwendet. Schon Benjamin von Stuckrad-Barre schrieb 1998 einen Artikel aus Bausteinen, der mit den Worten begann: „Ich war nicht beim Konzert der Rolling Stones, erzähle aber trotzdem gerne, wie es dort war.“ Ich denke, bei der Lektüre der Lokalzeitung kann man viele Artikel mitsprechen. Das liegt daran, dass die im Prinzip auch nur aus Textbausteinen zusammengesetzt sind. Die Überraschung, oder ein kreativer Ansatz ist in der Lokalzeitung eher die Ausnahme als die Regel. Das zeigt das Potential des Roboterjournalismus als algorithmengetriebenen Journalismus, weil es keine Schwierigkeit sein dürfte, die Polizeimeldung oder den Bericht von der Hauptversammlung des Kanininchenzüchtervereins von einem Roboter aufschreiben zu lassen. Da wird die Qualität vermutlich eher besser sein als wenn ein gelangweilter Journalist das aufschreibt.

Du versuchst jetzt eine neue Form des Roboterjournalismus. Was planst Du? Ich arbeite als Wissenschaftsjournalist und meine Tagesgeschäft ist, dass ich mit strukturierten Daten zu tun habe, mit wissenschaftlichen Experimenten, die aufgezeichnet werden. Normalerweise berichte ich über Experimente, wenn sie abgeschlossen sind. Ganz einfach, weil es viel zu viel Aufwand wäre, ein ganzes wissenschaftliches Experiment zu verfolge. Das bezahlt überhaupt keine Redaktion. Meine Idee ist, auf Sensorjournalismus zu setzen.

Was ist das für ein Projekt. Du züchtest Urzeitkrebse? Ich war auf der Suche nach einem der einfachsten Experimente, die möglich sind und da kommt man relativ schnell zu einem der meist verbreiteten wissenschaftlichen Experimente, bekannt aus jedem Kinderzimmer; das sind die Urzeitkrebse, Also habe ich mir einfach ein Becken auf den Schreibtisch gestellt, zehn Liter, so ein kleines Aquarium und darin züchte ich Urzeitkrebse. An dem Aquarium kleben Sensoren, zwei Bewegungssensoren, im Aquarium steckt ein Temperatursender und es gibt Helligkeitssensoren und einen Futterautomaten und diese Sensoren sind verknüpft mit einem kleinen Minicomputer.

Was macht dieser Minicomputer, an den diese verschiedenen Sensoren angeschlossen sind? Der Minicomputer heißt Partial, das ist ein Verwandter des bekannten Ardoinos und das ist ein kleiner Chip, ungefähr so groß wie ein Daumen, der ans W-Lan angeschlossen ist und Eingänge für Sensoren hat. Er sammelt die Sensordaten und schickt die ganz einfach erst mal ins Internet. Die Software wählt die Textbausteine aus, je nachdem, wie hoch die Sensorwerte sind, also ob die Temperatur in Ordnung ist oder ob sie zu niedrig für die Urzeitkrebse ist oder bedrohlich hoch wird. Sie zählt dann einen passenden Textbaustein aus, auch passend  zur Tageszeit und zur Aktivität in den sozialen Medien.

Dieses Projekt ist angekündigt als etwas komplett Neues. Was ist neu daran? Wir haben ja gerade eben darüber gesprochen, dass es Roboterjournalismus auf die eine oder andere Art und Weise durchaus schon gibt. Im Moment gibt es Roboterjournalismus in vergleichsweise Randbereichen. Neu ist einerseits, den Roboterjournalismus in den Wissenschaftsjournalismus einzuführen und neu ist, dass mein System eine Livereportage generiert. Das heißt: das, was im Aquarium am Rande meines Schreibtischs passiert, wird von Sensoren erfasst und live in einen Text umgesetzt. Das heißt, jeder Leser erhält live im Moment des Aufrufs der Reportage einen auf ihn zugeschnittenen Text, der nur er so lesen kann.

Züchtest Du die Urzeitkrebse einfach an und lässt diese dann allein, oder hast Du Einfluss auf dieses Experiment? Tatsächlich nehme ich Einfluss in so fern, dass das Wasser gewechselt werden muss und das Aquarium auch mal saubergemacht werden soll. Das Aquarium ist relativ abgeschirmt, damit die Sensoren gut arbeiten können, und eine Webcam das Bild gut übertragen kann. Diese Urzeitkrebse werden im Moment noch von einem Futterautomaten regelmäßig um Punkt zwei Uhr gefüttert. Das könnte sich aber auch ändern. Es ist angedacht, dass in einer nächsten Version die Leser per Social Media die Möglichkeit haben, die Krebse selbst zu füttern, also man twittert und löst damit den Futterautomaten aus und füttert die Krebse und kann das wieder live auf der Webcam verfolgen.

Kann man über Twitter diese Urzeitkrebse töten, überfüttern, ihnen Streicheleinheiten zukommen lassen? Wie weit ist die Einflussmöglichkeit? Theoretisch, technisch gibt es keine Limit. Aber wie haben es mit lebenden Tieren zu tun. Das ist auch der Grund, weshalb die Möglichkeit, sie zu füttern, bisher noch begrenzt ist, weil ich aufpassen muss, dass kein Troll die Krebse überfüttert und damit das Experiment zum Kippen bringt.

Urzeitkrebse kennt man aus den YPS-Heften. Urzeitkrebse gibt es seit langer Zeit. Aber sie sind eigentlich eine Erfindung, habe ich gehört. Was hat es mit diesen Viechern auf sich? Die Urzeitkrebse gibt es seit ungefähr 100 Millionen Jahren. Die Wissenschaft hat die lange ignoriert, vor allem, weil sie plötzlich auftauchen und dann wieder verschwinden und nur Eier zurücklassen, die im Sand zurückbleiben. Das hat dazu geführt, dass die Wissenschaft eigentlich erst Mitte des 19. Jahrhunderts überhaupt auf die Urzeitkrebse aufmerksam wurde. Salinenkrebse, praktisch der Prototyp der Urzeitkrebse, waren als Aquarienfutter bekannt und in den Sechziger Jahren ist ein verrückter Erfinder, der Herr Harold Braunhut auf die Idee gekommen, aus diesem Aquarienfutter ein Kinderspielzeug zu machen.

Auf die Idee muss man erst einmal kommen. Was war die Motivation hinter dieser Vermarktung? Harold Nathan Braunhut, der sich Harold von Braunhut nannte, weil das so schön deutsch klang in den USA, war geborener Amerikaner. Er hatte vorher schon eine Röntgenbrille aus Pappe erfunden und vermarktet und ist auch Erfinder des unsichtbaren Goldfischs. Nur, damit man ihn einordnen kann. Er hatte die Idee, ein Spielzeug zu erschaffen, das etwas Göttliches hat. Die Idee der Urzeitkrebse sind göttlich. Man erschafft Leben. Instant Life hießen die ersten Urzeitkrebse im Jahr 1960. Harold von Braunhut vermarktete die Urzeitkrebse über Anzeigen in Comicheften und war selbst überrascht von dem Erfolg. Er starb im Jahr 2003 bei einem Autounfall und bis dahin war er das Zentrum der Urzeitkrebsindustrie. Er hatte eine eigene Art gezüchtet, die viel länger leben sollte und diese Art patentiert.

Das sind diese Krebse, die wir auch in den YPS-Heften gesehen haben? Es waren am Anfang Salzkrebschen auf den YPS-Heften. Später kam etwas, das YPS „XXL-Urzeitkrebse“ nannte und diese Krebse leben auch in meinem Aquarium. Das sind Verwandte der ursprünglichen Salzkrebse, nämlich Triops.

Was hat er mit diesem Geld gemacht? Da gibt es doch die eine oder andere Legende. Bei seinem Tod schrieb die Washington Post einen Bericht, in dem sie darlegt, dass von Braunhut sein Geld offenbar unter anderem dafür einsetzte, Waffen an den Ku-Klux-Klan zu spenden und er soll auch an den jährlichen Treffen der rassistischen Arian-Nation teilgenommen haben und sogar einen eigenen antizionistischen Newsletter vertrieben haben. Das heißt: Wir, die damals ganz unbedarft Urzeitkrebse gezüchtet haben, haben womöglich damit eine rassistische Ideologie unterstützt.

Wird es irgendwann auch direkt aus dem Teilchenbeschleuniger in Genf Live-Reportagen geben? Das ist durchaus eine spannende Option, weil viele dieser Experimente, auch der Großexperimente sind für uns intransparent. Wie wissen überhaupt nicht, was da zur Zeit passiert. Natürlich wäre es spannend, wenn man auf die Seite des Teilchenbeschleunigers geht oder auf eine Seite einer Zeitung und dort aktuell berichtet bekommt, was gerade stattfindet. Das ist eine Option für den Sensorjournalismus. Alles beginnt mit Urzeitkrebsen, einem der einfachsten Experimente, die man in der Wissenschaft machen kann, sehr leicht verständlich. Aber es ist natürlich beliebig anwendbar. Meine Idee ist, aus diesem Sensorjournalismus ein Reporterboard zu konstruieren, was andere Journalisten nutzen können, um über Experimente zu berichten. Der große Vorteil ist: wenn das Board einmal programmiert ist, wenn die journalistische Leistung der Textbausteine zu erstellen, der Dramaturgie einer solchen Reportage einmal getan ist, kann man auf Knopfdruck das Experiment wiederholen und hat jedes Mal eine länger dauernde, fortwährende Berichterstattung.

Wenn dieses Board erst einmal da ist, dann können diese Texte generiert werden. Aber werden in dem Moment nicht Journalisten abgeschafft? Der Journalist muss nach wie vor vor Ort sein und recherchieren. Auch der Textroboter wird programmiert von Journalisten, wird gefüllt von Journalisten. Das ist eine grundjournalistische Arbeit. Nur, dass es eben keinen starren Text mehr gibt, sondern einen flexiblen Text, der je nach Ereignissen variiert. Es ist ganz normal: vor einer Wahl bereiten Journalisten auch drei, vier oder fünf mögliche Varianten eines Artikels vor. Vor einem Fußballspiel werden drei oder vier Varianten eines möglichen Ergebnisses vorgeschrieben, damit man, sobald das Spiel zu Ende ist, sobald die Wahl abgeschlossen ist, eben die richtige Variante veröffentlichen kann. Und so ist das im Prinzip im Roboterjouralismus. Journalisten werden gebraucht, um zu recherchieren, um Texte zu erstellen. Es ändert sich eigentlich nur die Ausgabe, die Form. Überflüssig werden die Journalisten, die heute schon nicht mehr als Google-Bedienroboter sind, die Nachrichtenagenturmeldungen umschreiben oder durch einfaches Googeln Geschichten recherchieren. Reporter, die vor Ort sind, die Interviews führen, die Themen aufspüren, die Dramaturgieen von Texten erstellen, werden nicht überflüssig werden. Sie sollten aber programmieren lernen.

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