Rezension: „Sevilla“

Ein Geldbote ist erstochen worden. Die Geliebte und Komplizin des Mörders flieht mit der Beute von Deutschland nach Sevilla. Sie wartet monatelang – auf ihren Gefährten, auf die Verjährung der gemeinsamen Tat, auf ein neues Leben, das sie irgendwo in den engen Gassen von Andalusiens Hauptstadt vermutet. Sie lebt auf der Schnittkante von Vergangenheit und Zukunft, von Hoffnung und Angst, von Vertrautheit und Fremde.

„Me borro, me pinto“ – „Ich radier‘ mich aus, ich mal‘ mich neu“ hat Nina Jäckle ihrem dritten, wieder anmutig stillen Roman als Motto vorangestellt. Ihre Heldin spielt mit Identitäten, mit Entwirfen und sucht sich einen neuen Liebhaber, der ihre Sprache nicht versteht. Sie bügelt ihm die unschuldigen, reinweißen Hemden, freundet sich später mit der whiskytrinkenden „Mercedes“ an und lernt erste Fremdwörter, die in ihre Sätze einbrechen. „Es wird kälter, sie binden die Palmenblätter nach oben, wie Kerzen stehen die Palmen starr auf den Plätzen, für den Winter in Form gebracht. Immer weniger Menschen sitzen draußen, el viento, obwohl die Tische und Stühle bereitstehen, jeden Tag aufs Neue, immer wieder diese frisch eingedeckte Hoffnung auf den blauen Himmel.“

Aus Sommer wird Herbst wird Winter. Aus Mercedes eine Vertraute. Gemeinsam geben sie einen Teil der Beute aus. Gewohnheiten entstehen. Ein Alltag beginnt. Bis der längst verdrängte Komplize auftaucht und berichtet, dass sie in Schwierigkeiten stecken, „so richtig in Schwierigkeiten, ich hoffe, dein Bett ist groß genug, ich werde bleiben.“ Es gibt Ärger mit Leuten, die ihr Geld zurückhaben wollen, mit einem Bruder, der seinen Bruder rächen will, „es gibt ein Städtchen, dessen Polizei uns zur Wiederherstellung ihres Rufes richten will, wir haben Ärger von allen Seiten.“ Mit der neuen Unruhe konfrontiert erwägt die Frau, ihren einstigen Geliebten zu beseitigen. Wer vermisst einen Flüchtling? – Es folgen Abstürze, bizarre Pläne, blutige Schusswechsel, ein Mord, eine Menge Action, allerdings mit stummgeschaltetem Ton.

Nina Jäckle hat während eines halbjährigen Aufenthalts in Sevilla zugelassen, dass sich ihr Umfeld langsam „einschleicht“. Ihr neuer, hochpoetischer Roman schleicht sich ebenfalls ein. Der Puls fährt nach wenigen, impressionistisch hingetupften Absätzen runter: „Ich bin leise, ich höre nur mich selbst atmen in dem dunklen Zimmer, in dem Bett. Ich bin leise, niemand soll hören, dass nur ich in diesem Zimmer atme, dass es nur meinen Körper gibt in diesem Bett.“ Glück bedeutet, für einen Augenblick danebenliegen zu können.

Nina Jäckle: „Sevilla“, Berlin Verlag, 148 Seiten, 19,90 Euro

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