Rezension: Eingebautes Staunen

Jetzt slammen auch die Jungs von der Côte d’Ivoire (Elfenbeinküste). Bei Voland & Quist erscheint gerade der Sammelband „Plume Libre – Freie Feder“ über Sutra-Busse, algerische Action und Schlampentestamente.

Deutschland ist nicht nur das Land der Opern, Theater und Literaturhäuser. Mit „Volk Heim & Welt“ („Volk & Welt“ sind die hier), „Mittwochsfazit“, „Schkeuditzer Kreuz“ und anderen festen Autorenensembles gibt es hier die größte Lesebühnendichte der Welt (nein, Rapbattles sind keine Lesebühnen). Diese höchst erfolgreichen Einrichtung ist in der Wendezeit entstanden, meistens im Osten Deutschlands präsent – und als Szene eifrigster Zuträger des bedingungslos empfehlenswerten Verlags Voland & Quist aus Dresden.  (Auf den Buchmessen gibt’s bei Sebastian Wolter und Leif Greinus stets das beste und kühlste Flaschenbier, allein dafür sei gedankt).

Zu den bekanntesten Lesebühnenakteuren gehören, quasi als Major-Acts, Horst Evers (Rowohlt), Wladimir Kaminer (Goldmann), Jakob Hein (Piper). Mit Letzterem beginnt sogleich das Indieterrain der Voland & Quist-Helden, den Jakob Hein ist auch hier immer wieder bei den Buch-CD-Bänden vertreten, außerdem: Ahne und die Surfpoeten, Michael Bittner und Sax Royal, Kirsten Fuchs, Jochen Schmidt und ihre Chaussee der Enthusiasten.

Die dazu gehörenden, meist wöchentlichen Live-Veranstaltungen sind überraschend gut besucht. Geboten wird dann keine Dichterlesung im Loriot-Krawehlstyle, sondern die eher leichte Muse, mit Alltagsbeobachtungen, Gelegenheitssituationen, Befindlichkeitsbeschreibungen. Die Geschichten sind oft dem Großstädtischen verpflichtet, lehnen sich hier also dem deutschen HipHop der Fanta4-Phase an. Sie sind nicht fürs Archiv verfasst, besitzen dafür aber einen stark performativen Charakter. Im „Konkret“-Heft zum Thema Popliteratur stand vor vielen Jahren, Ahne habe nur einen einzigen großen Satz geschrieben: „Habe auf eine Bank gesessen und einen Keks gegessen“ (aus dem Kopf zitiert, immerhin ist er hängengeblieben). Gar nicht mal so schlecht.

Dieses leicht erinnerbare Format hat Stefanie Kastner vom Goethe-Institut Côte d’Ivoire vor vier Jahren übernommen. Die ivorischen Studenten ihrer Creative Writing-Klasse verfassten zwar mit Hingabe Slamtexte, besaßen aber keinen Zugang zu Verlags- und Bühnenwesen. In einem derartigen Klima entstehen Lesebühnen. Ähnlich ging es den deutschen Pionieren 1987 in Magdeburg, als sie die Lesebühne „Erich Weinert“ gründeten (nach kurzer Zeit wurde diese vom DDR-Staat abgeschafft, weil angeblich Dissidenten ihr Podium fanden).

Dissidenten sind bei „Plume Libre – Lesebühnenliteratur aus Abidjan“ nicht vertreten. Jedoch wird der ivorische Alltag in seiner Farbe, Pracht und Fehlerhaftigkeit abgebildet. Diese Texte funktionieren ähnlich wie die aus Deutschland bekannten. Ihre Pointen sehen nur anders aus. Hier ist es keineswegs verwunderlich, dass ein Junge erst mit 12 Jahren zur Schule gehen darf, weil er vorher als Arbeitskraft gebraucht/missbraucht wurde. Dem Fahrkartenkontrolleur entzieht man sich nicht durch Poetry-Slam geschulte Schlagfertigkeit, sondern mit einem beherzten Sprung durchs Fenster (in vielen Bussen des ÖPNV kann man hierzulande nicht einmal die kleine Luke kippen).

Es werden Bananen gegrillt, Lehrer bestochen, in Fabeln kommen Kissen aus Backhähnchen vor. Bei der Testamentsverlesung einer Superschlampe werden die Zuhörer reihenweise über die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse ihrer angeblichen Kinder aufgeklärt. Die alten Freunde Schlange und Schildkröte sind seit einem Wettsaufen wahre Erzfeinden, und Fernsehen ist ein abendliches Massenspektakel auf dem Marktplatz, wenn man sich versammelt, um John Travolta und Johnny Depp (die gelten dort als Actionstars) zu bestaunen. Ein anderer Superstar ist Sprintwunder Usain Bolt aus Jamaika.

Die deutschen Lesebühnenhelden kommen nur am Rande vor, mit ein paar Einblicken in dieses fremde Land. Hier schaut es im Text wieder genauso aus wie daheim, beispielsweise bei Falko Hennig: „Es gab Stromausfall, kein Wasser mehr, ich war angekommen. Ich legte mich aufs Bett und wartete, Stunde über Stunde, irgendwann kam Strom, und ich schaltete den Fernseher an, wackelnde Frauenhintern waren zu sehen. Ich schaltete um, auch wackelnde Frauenhintern, auf den anderen Kanälen dasselbe. Also langweilig würde es hier nicht werden.“ Stimmt. Langweilig wird es auf den Lesebühnen selten – bei den Autoren (und der einzigen Frau) der Côte d’Ivoire ist sogar ein Staunen eingebaut.

(Goethe-Institut Côte d’Ivoire (Hg): „Freie Feder – Plume Libre„, zweisprachig in Deutsch und Französisch gedruckt, Voland & Quist, 160 S. inkl. CD, 12,80 Euro)

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