Rezension: Ein Dreier im Sommer

Gleich zwei sich kreuzende Familiengeschichten hat Lisa-Maria Seydlitz in „Sommertöchter“ verbunden. Es geht in ihrem Debüt um zerstörte Hoffnungen, Alleinsein und einen Neuanfang.

Das Haus in dem Juno mit ihren Eltern in Deutschland wohnt „hat eine dunkle, hölzerne Haut. Um das Haus liegt ein großer Garten, der von einer Hecke umsäumt ist.“ Als Juno überraschend ein Fischerhaus in der Bretagne erbt, fährt sie allein los und trifft an ihrem Ziel die Kellnerin Julie und den Architekten Jan. „Man könnte unsere Häuser abzeichnen und als Bilderrätsel in einer Zeitschrift veröffentlichen: Finden Sie den Unterschied. Jan und ich sind Nachbarn. Unsere Häuser sind weiß, haben das gleiche rote Dach und vor beiden steht ein Apfelbaum.“ Der Garten daheim hat keinen Apfelbaum, der Früchte trägt, nur einen langweiligen Schmuck-Rhododendron.

In Deutschland ist Juno eine ganze Kindheit lang in diesem dunklen Haus allein gewesen. In Frankreich wohnt sie mit Julie zusammen, die es sich bereits gemütlich gemacht hat, in einem Haus, das weiß ist und hell, das in der Sonne glitzert, strahlt. Juno ist anfangs zu schüchtern, um Julie genauer zu befragen. Das ist seltsam. Würde nicht jeder andere Mensch genau wissen wollen, wie sich jemand Einlass ins fremde Eigentum verschafft hat? Und wer ist diese Frau wirklich? Warum fragt Juno nicht weiter nach?

Vielleicht liebt Juno das Geheimnis. Vielleicht möchte dieses zarte Mädchen der Welt ein bisschen Magie übrig lassen. Denn mit Magie fing alle an. Juno, angelehnt an die höchste Göttin in der römischen Mythologie, wurde zum Mittsommer geboren. Solche Daten sind in Romanen niemals zufällig gewählt. Mittsommer, das ist die Walpurgisnacht. Das ist der Hexentanz. Das ist die Zeit, in der Heilkräuter zu vollen Blüte gefunden haben. Alles wispert, ist rätselhaft. Und Juno liebt das Rätselhafte. Wenn sie in ihrer Kindheit morgens Wasserpfützen auf dem Dielenboden sieht, stellte sie sich vor, wie Vater nachts Bahnen im Freibad geschwommen ist.

Tatsächlich konnte er nicht einschlafen und war duschen gegen das ewige Rumwälzen im durchwachten Bett. Doch solche profanen Erklärungen hat Juno nie gelten lassen. Wahrscheinlich ist es ein Schutzmechanismus. Ihr Vater ist jahrelang schwer depressiv. Er muss Tabletten schlucken. Er wird in die Psychiatrie gebracht. Die Katze, die er aus Heilungsgründen bekommt, wird vernachlässigt. Die Katze, irgendwann lahm, siech, schwankend, ist Sinnbild für Vaters Zustand. Junos Kindheit muss die Hölle gewesen sein.

Kein Wunder, dass sie nicht mit Wahrheiten konfrontiert werden will. In der Bretagne erholt sich Juno von den Strapazen eines anstrengenden Erwachsenwerdens. Das weiße Haus mit dem Apfelbaum lässt das hinter ihr liegende dunkle Haus mit der Hecke vergessen. Juno freundet sich mit Jan und Julie an. Sie unternehmen Ausflüge, feiern Geburtstag, liegen zusammen im Gras und schauen sich in warmen Nächten die Sterne an.

Es ist selbstverständlich komisch, dass Juno keine weiteren Fragen stellt, dass sie nichts wissen will von der genauen Beziehung zwischen Julie und Jan. Sie hat sich vermutlich in den Architekten verknallt. Aber sie sprechen nicht darüber. Julie murmelt manchmal französische Sätze. Aber auch hier schweigt Juno, stellt sich vor, die Kellnerin erzähle Märchen für sich selbst. Sie zählt nicht ein einziges Mal eins und eins zusammen. Sie versucht lediglich, ihren Vater, dessen Krankheit und ihre traurige Mutter zu vergessen.

Juno ahnt nicht, dass sie von Julie beneidet wird. Sie ahnt auch nicht, dass ein Zusammenhang existiert zwischen diesem Sommer in der Bretagne und mysteriösen Anrufen, die jahrelang ihre Mutter in Rage gebracht haben. Sie erlebt mit Jan und Juli ihre Kindheit ein zweites Mal. Szenen spiegeln sich. Aber nur als Leser ahnt man langsam, dass ein düsteres Geheimnis auf den Figuren dieser Geschichte liegt, dass Jan, Juli, Juno und all die anderen Teil eines Lebenspuzzles sind, das zusammengefügt ein furchterregendes Bild präsentiert.

Lisa-Maria Seydlitz: „Sommertöchter“, Dumont, 208 Seiten, 17,99 Euro

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