Rezension: Drei Männer und ein Baby

Auf einem Hof in Niederbayern leben drei Männer ohne Frau – bis ein Autounfall ihren Alltag durcheinanderbringt in Max Scharniggs wunderbarem Roman „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“.

Zu den großen Merkwürdigkeiten kleinkindlichen Lebens gehört, dass sich nahezu jeder Vierjährige mit seinen Lebensumständen arrangiert: Ob Hartz-IV-Wohnung oder Millionärsvilla – ein kleiner Mensch tapst traumwandlerisch durch seine ihm vorgegeben Welt und füllt sie mit (meistens fröhlichen) Bedeutungen. So auch Jasper Honigbrod, der Knirps aus Max Scharniggs neuen Roman „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“. Der Sechsjährige, benannt nach dem US-amerikanischen Maler Jasper Johns, wohnt mit Vater und Großvater auf einem Gehöft in Niederbayern. Seine Mutter ist bei Jaspers Geburt verblutet. Vaters Geliebte „Lene-Mama“ kommt manchmal vorbei, vorzugsweise im Frühjahr und Sommer.

„Hätte man Marlene John gefragt, sie hätte ehrlich nachgedacht und dann gesagt, dass in ihrem Leben bisher nichts passiert ist. Aber es fragte sie niemand danach, und das war schon ein Teil von dem, was sie eigentlich meinte.“ Im Winter. ohne „Lene-Mama“ entwickeln die drei Männer Rituale und Regeln, um nicht einzugehen vor Kälte, Sorge, Einsamkeit. „Die zwei Regeln meines Vaters. Führe ein Tagebuch. Sorge dich um die Hofstange.“ Deshalb bekommt der Kleine zum Geburtstag ein besonderes Geschenk: „Mein lieber Jasper Honigbrod, du bist jetzt sechs Jahre alt. Wie jeder große Mann der Geschichte wirst du von nun an natürlich Tagebuch führen.“

Dass Jasper zu diesem Zeitpunkt noch Analphabet ist, scheint der Vater nicht zu ahnen: „Er setzte, das kann ich heute so sagen, bei allen Menschen sein Universitätsniveau voraus und war zumindest leicht irritiert, wenn man ihm nicht leitfüßig dahin folgte.“ – Die Hofstange ist ein erfundenes Kuriosum des Romans. In der Gegend um Pildau (eigentlich Pildenau, dem Geburtstort des Papstes Damasus II., bürgerlich „Poppo von Brixen“) besitzen angeblich alle Bauern eine derartige Stange, die hoch in den Himmel wächst und jährlich um einen Keil verlängert wird.

Die Stange wächst in den Himmel, dem hier eine Chronik gewidmet ist, damit etlichen aktuellen deutschen Gegenwartsromanen nicht unähnlich, die wahlweise die Geschichte eines alpenländischen Bergdorfes nachzeichnen („Blasmusikpop“ von Vea Kaiser) oder die verwickelten Lebensverhältnisse einer Einwandererfamilie schildert („Fünf Kopeken“ von Sarah Stricker). Es scheint, als gäbe es in unsicheren Zeiten eine besondere Sehnsucht nach Selbstvergewisserung und nach Geschichten, in denen Probleme leichtfüßig angegangen werden.

Diese drei Generationen unter einem Dach haben nur im Roman etwas Heimeliges. In Wirklichkeit wäre dieses abgeschiedene Leben der reine Horror. Dann findet nahe des Hofs ein Autounfall statt, bei dem nahezu alle sterben – außer ein kleines Mädchen, das heimlich auf den Hof entführt wird und nun nach dem Fabrikat des Wagens gerufen wird, in dem sie beinahe ums Leben gekommen wäre: Lada. Sie hat es gut auf dem Hof, alle sorgen sich um sie. Aber wieso schöpft niemand Verdacht, forscht nach ihr? Irgendetwas „stimmt nicht“. Die „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“ ist nur auf den ersten Blick ein leichtgängiger Erwachsenwerdenroman, der Schreckliches in Schelmisches verwandelt.

Eigentlich sind diese Figuren geisteskrank, wenn auch auf liebenswerte Weise. „Audi Gaudi, Opel Popel, BMW tut so weh, Päscho hoho, Citroen ich muss gehn.“ So bekommt es Jasper vom Großvater beigebracht, der mit seinem Finger die fern vorbeifahrenden PKW zu dirigieren scheint, wie der Held in Christian Krachts „Faserland“ von 1995, der am Schwulenstrand von Mykonos steht und „mitten an diesem grässlichen Ort, mit bleicher Haut, umringt von ungefähr einer Milliarde nackter brauner Männer, sehe ich, ganz weit draußen, im heller werdenden Blau des Meeres einen Dampfer vorbeifahren. Ich zeige mit dem Finger auf den Dampfer, bewege mich dabei nicht und kann sehen, wie das Schiff sich in Relation zu mir bewegt. Ganz klein, hinten, wo der Horizont fast schon weiß ist, fährt es an meinem ausgestreckten Finger vorbei. Und das Beste daran ist: Meine Kopfschmerzen gehen weg, die Panik wegen den Schwulen geht weg, alles geht wieder in Ordnung. Es ist fast so, als ob ich keine Angst mehr haben müsste im Leben, für einen Moment.“ Geschichten bannen Ängste und wenige Geschichten schaffen das so eindrucksvoll wie Max Scharniggs „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“.

Max Scharnigg: „Vorläufige Chronik des Himmels über Pildau“, Hoffmann & Campe, 308 Seiten, 19,99 Euro

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