Rezension: Die große RAVEolution

”Das ist der Hammer, ein Wahnsinn, und praktisch alles schon fertig geplant: Raves auf U-Booten vor der Küste, Festivals im Buckingham-Palast, eine Messe der Holy Church of Rave mitten im Vatikan, Go-go-Girls im Bundestag.” Rainer Schmidt, erzählt im Technoroman “Liebestänze” von einer ebenso strahlenden wie verstrahlten Zeit, als Raves und Revolutionen zusammenfielen. 

Hilflos starrt Felix, der Held von “Liebestänze”, auf die Zahlen in seinem Block und versteht: Ich ertrinke. “Seit Wochen benutzte er die Wohnung in der Mommsenstraße nur als Basislager für seine Expeditionen in die Nacht – oder ins Büro.” Während die Raves überwogen, litt sein Job als Bankberater für vermögende Privatkunden in Berlin, weil die Dortmunder “Mayday” vorging oder eine Nacht im “Poison”, weil er mit “Loveparade-Professoren” und “Techno-Millionären” debattieren musste über Kunst, Kommerz, Liebe und den ganzen Technorest. Der große Bumm-Bumm-Gott rief – und Felix antwortete. Jetzt sitzt der junge Mann am versifften Schreibtisch im versifften Leben, fristlos entlassen und “mit allen verfügbaren Reserven käme er ohne Gehalt zwei, drei Monate aus.” Das Geld, das ihm diverse Feierfreunde schulden – geschätzte 600 Mark – hat er längst abgeschrieben.

Doch Felix versucht, der Situation etwas Positives abzugewinnen: “Erst das Ende der kläglichen Bequemlichkeit setzt manchmal die Energien frei, die man für etwas Neues braucht, fern der teppichgedämpften Elendsflure seines elenden Jobs.” Mit dem Kinofilm “Saturday Night Fever” von 1977 kam ein Phänomen in die Popkulturwelt, das als “John Travaolta-Schizophrenie” beschrieben wird und seitdem immer wieder in der Kunst auftaucht, in “Bright Lights, Big City” von Jay McInerney oder auch in Breat Easton Ellis‘ “American Psycho”. John-Travolta-Schizophrenie, das heisst: Wer neben seiner Angestelltenarbeit regelmäßig feiern geht, zerbricht zwangsläufig am Gegensatz geregelter 9-to-5-Job versus Disconacht. Dem Stroboskop-Hedonismus wurden neonbeleuchtete Flure gegenübergestellt und in “Liebestänze” klappt das vielleicht auch deshalb ganz gut, weil Autor und Journalist Rainer Schmidt dieses Dilemma aus eigener Erfahrung kennt. ”Logo. Zum einen gab es den körperlichen Aspekt, dass man morgens nach einem durchgefeierten Wochenende manchmal nicht wirklich in Höchstform in der Redaktion saß”, erinnert er sich im Interview.

“Schlimmer war es natürlich, wenn man mitten in der Woche abgestürzt ist. Dann saß ich wie ein Zombie vor dem Schirm und musste trotzdem funktionieren. Hat in der Regel auch ganz gut geklappt, glaube ich zumindest. Der andere Aspekt war, dass ich mich schon eine zeitlang gefragt habe, ob diese Nacht- und Musikwelt nicht wirklich die bessere für mich ist:  coolere Leute, größere Intensität, mehr Spaß. Ich weiß, das stimmte nicht immer, war aber oft der Eindruck. Mich hat die Energie dieser Nachtmenschen, insbesondere der Macher, also: DJs, Plattenlabel-Betreiber, Club-Betreiber, Loveparade- und Mayday-Macher, immer extrem fasziniert und inspiriert. Deren Einsatz und enorme Leidenschaft fand ich beeindruckend. Deutlich beeindruckender als die professionelle Distanz und das Wichtigtuerische vieler Journalisten-Kollegen.”

Dieser bescheidene Ton lässt auch “Liebestänze” leuchten. Die Geschichte ist nämliche keine stolzgeschwellte Erinnerung an krasse Abstürze, sondern eher ein Entwicklungsroman im 4/4-Takt mit subsonischem Bass und hart gemixten Übergängen, ein Bekenntnisbuch, das als Techno-DJ-Set vermutlich zwischen fünf und sieben Uhr morgens im Nebenraum zu hören wäre, für alle, die nichts von After-Hour und baldigem Ende wissen wollen. – “Liebestänze” erzählt, wie Felix 1996 aus Angst vor dem “großen Verpassen” nach Berlin übersiedelt, wo alle von der “RAVEolution” überzeugt sind, wo jeder misstrauisch beäugt wird, der plötzlich mit seiner festen Partnerin zusammenzieht, heiratet, sein Glück privatisiert, der nicht mehr mitmachen will beim großen Hype zwischen  Tresor, E-Werk, WMF und Loveparade.

Gibt es wahre Liebe auf der Loveparade? Wie heilig ist der große Bumm-Bumm-Gott? Warum faseln alle vom Kuwait-Rave mit Saddam Hussein? Sind 600 Mark für eine Taxifart zur “Mayday” in Dortmund gut angelegt? Verraten Partyprofessoren, karrieregeile Popjournalisten, Technomillionäre und Raveanwälte die heilige “RAVEolution”? Rainer Schmidt hat eine unterhaltsame Antwort auf diese Frage gefunden, außerdem in der ganzen Republik 300 Vorleser für die 300 Seiten seines Romans Liebestänze gefilmt. Er hat DJs vor die Kamera geholt, Musiker, Schriftsteller, Rentner, Werber, Auszubildende, Raver, Passanten, Tänzer, Trinker, Kinder, Autoren, Filmemacher, Künstler, Angehörige. Mit dabei sind unter anderem:  Dr., Motte, Georg Diez, Benjamin von Stuckrad-Barre und Marusha. Wieviel Hingabe und Wärme steckte tatsächlich in den “Liebestänzen”?

Rainer Schmidt: „Liebestänze„, KiWi, 288 Seiten, 8,95 Euro

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