Das Geräusch der Dinge beim Fallen

Er ließ einen Justizminister, einen Präsidentschaftskandidaten und mehrere hundert Kontrahenten hinrichten. George W. Bush senior nannte ihn Amerikas Staatsfeind Nummer 1. – Der kolumbianische Kartellchef Pablo Escobar terrorisierte sein Volk und die U.S.A. ein Vierteljahrhundert lang, bevor er 1993 auf der Flucht erschossen wurde. Landsmann Juan Gabriel Vásquez, gerade ausgezeichnet mit dem 100.000 Dollar schweren International Impact Dublin Literary Award beschreibt in seinem aktuellen Roman, wie Escobar das Leben der meisten Kolumbianer nachhaltig traumatisierte. 

„Die Gefahr ist eine der Hinterlassenschaften Escobars. Ein Leben ist in Kolumbien wenig wert“, sagt Vásquez. „Jede Woche geht es in einem erheblichen Teil der Nachrichtensendungen um Entführungen und Morde. Niemand ist sicher.“ – Um nicht in Kriminaldokumentarische abzudriften bedient sich Vásquez einer Methode, die in deutschen Film-Film-Produktionen mit purer Regelmäßigkeit danebengeht: Er verbindet Zeit- mit Familiengeschichte. „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“ erzählt in Episoden vom irgendwann komplett eingeschüchterten Jura-Professor Antonio Yammara, der 2009 von seiner Erinnerung eingeholt wird. Yamarra war einst Augenzeuge eines Attentats, das er längst verdrängt zu haben glaubte.

Doch dann liest er die Geschichte eines Nilpferdes, das aus Pablo Escobars einstigem Privatzoo ausgebrochen ist. Millionen hatte der Drogenboss in den Jahren seines bizarren Megaerfolges für exotische Tiere verpulvert, für Emus, Königstiger, Aras aus dem Amazonasgebiet und handtellergroße Schmetterlinge. Seine Geschäftspartner würden ihn umbringen, erführen sie jemals, was er mit einem Teil der Gewinne aus dem Kokainhandel veranstaltet, soll Escobar einst gesagt haben.

Nach seinem Tod 1993 wurde der Zoo aufgelöst. Das Anwesen verfiel. Allein die Nilpferde blieben, vermehrten sich rasant und wurden wie in diesem Fall zur lebensbedrohlichen Plage. „Die Scharfschützen, die es jagten, schossen ihm eine Kugel in den Kopf und eine ins Herz (Kaliber .375, Nilpferdhaut ist dick). Sie posierten mit dem Kadaver, eine dunkle, faltige Masse, ein vom Himmel gefallener Meteorit.“ Das sind auf den ersten drei Seiten das Ende Escobars als Tierparabel. Inzwischen ist der Zoo zu einer Art Freizeitpark umgebaut worden, „was ich mir sehr gemischte Gefühlen beobachte“, sagt Vásquez im Interview.

In Kolumbien wird jeder Bürger nahezu alle Anspielungen im Roman verstehen. Die Schreckenszeit des Medellín-Katells ist fest verankert im kollektiven Gedächtnis der Südamerikaner. So muss sich Vásquez nicht mit langen Erklärungen aufhalten und kann nach seinem Einstieg rasch wechseln zu Yamarra, der die Zeit permanenten Terrorismus’ vergegenwärtigt: „Ich war vierzehn gewesen an jenem Abend 1984, als Pablo Escobar seinen prominentesten Verfolger tötete oder töten ließ, den Justizminister Rodrigo Lara Bonilla (zwei Killer auf dem Motorrad, ein einer Kurve der Calle 127). Sechzehn, als Escobar den Herausgeber der Zeitung El Espectador, Guillermo Cano, tötete oder töten ließ (wenige Meter vor der Redaktion, der Mörder schoss ihm achtmal in die Brust). Neunzehn und bereits erwachsen, auch wenn ich ihn noch nicht gewählt hatte, als der Präsidentschaftskandidatn Luis Carlos Galán starb.“

Ein weiteres Opfer des Drogenkrieges, ab hier wird Geschichte zur individuellen Last, ist der Kokainkurier Ricardo Laverde, der 1996 „auf den engen Gehwegen des Candelaria-Viertels im Zentrum Bogotás“ erschossen wird. Der 25-jährige Antonio Yamarra, gerade vom Jurastudium in eine außerordentliche Professur gewechselt, hatte Laverde wenige Wochen zuvor beim Billardspiel kennengelernt. In den Nachrichten wurde an jenem Abend über das verwahlloste Anwesen Pablo Escobars berichtet. „Was werden sie mit den Tieren anstellen? Die Armen krepieren vor Hunger, und keinen schert es“, sagt dieser hagere Mann. „Was trifft die schon für eine Schuld?“ Es sind die ersten Worte, die der Jurist Yammara von dem Verbrecher Laverde hört, Worte die eine kurze, durch das Attentat schnell beendete Freundschaft entstehen lassen.

„Im Gedächtnis ist mir von diesem Tag jedoch, dass der Mann nichts Einschüchterndes an sich hatte. Er war so dünn, dass man seine Größe überschätzte, und erst wenn er neben einem Queue stand, merkte man, dass er kaum eins siebzig maß.“ Der verlotterte Mann mit den schütteren, mausgrauen Haar war früher einer von Escobars Drogenkurieren, ein stolzer Profiteur des Haschisch- und Kokainschmuggels, bis er für 20 Jahre in einem US-amerikanischen Gefängnis einsitzen musste. „Damals gab es haufenweise Leute, die in die Vereinigten Staaten gingen und dort blieben.“ Es waren aufgeflogene Drogenkuriere, aber auch „einfache Passagiere einer Verkehrsmaschine, einer Avianca- oder American-Maschine“, die sich im Norden ein besseres Leben versprachen. „Irgendetwas mussten die Familien, die in Kolumbien warteten, den Kindern ja erzählen, oder? Also wurde der Vater getötet, im wahrsten Sinne des Wortes.“ Zurück blieben die Familien, Kinder, die als Waisen aufwuchsen, erzogen von trauernden Witwen.

Hatte Yammara bislang das Verbrechen als „Teil unseres Nationalcharakters“ bezeichnet, so bricht mit dem Attentat an Laverde pure Todesangst aus. Die zuvor fern wirkenden Nachrichtenbilder, die Berichte über Bluträusche, Sprengstoffanschläge, Hinrichtungen werden persönliche Realität. Der von nun an mutlose Yammara verwahllost unter den Augen seiner jungen Ehefrau. Bogotá ist für ihn jahrelang eine Stadt im Kriegszustand. Doch 2009 wird er sich gegen einen Rückfall in die Ohmacht stemmen, sich der Angst stellen. Yammara spürt Laverdes Tochter Maya auf und lässt sich die Vergangenheit erzählen. Er hört von der Ehe zwischen dem Kurier und seiner US-amerikanischen Ehefrau Elaine, die 1969 nach Kolumbien gereist war, als Angehörige des „Peace Corps“, das John F. Kennedy acht Jahre zuvor gegründet hatte, um ein positives Amerikabild in die Welt hinaustragen zu lassen. Elaine verliebt sich und die gemeinsame Tochter „Maya Laverde kam im Juli 1971 in der Klinik Palermo in Bogotá zur Welt, ungefähr zur gleichen Zeit, als Präsident Nixon erstmals den Ausdruck War on Drugs in einer Rede gebrauchte.“

In der ZDF-Doku „Die wahre Geschichte von Pablo Escobar“ (2010) sucht der Sohn des Drogenbarons Hinterbliebene auf. Er will sich für die Taten seines Vaters entschuldigen. Man sieht bedrückende Szenen, immer wieder unterbrochen von Archivausschnitten aus Escobars mondänem Leben, von seinen Schritten in die kolumbianische Politik, von seinem Kampf gegen andere Kartelle, die USA, das kolumbianische Volk. Bewaffnete Regierungstruppen werden ihn später richten, seinen Leichnam ähnlich zur Schau stellen wie die Scharfschützen den Nilpferdkadaver 16 Jahre später. – Juan Gabriel Vásquez Roman ist ähnlich wie dieser Dokumentarfilm aufgebaut. Nur dass hier nicht der Sohn eines Täters ermittelt, sondern ein Opfer, das aber mit den gleichen Erzählungen über Kartellromantik, Reichtum, Familienzusammenhalt konfrontiert wird.

Pablo Escobar, Ursache des unvorstellbaren Blutvergiessens jener Zeit, ist längst eine Figur der Populärkultur. Seine Geschichte wird im „Schattenkrieg“-Thriller  von Tom Clancy erzählt, 1994 mit Harrison Ford unter dem Titel „Das Kartell“ verfilmt. Er spielt eine Rolle in der HBO-Serie „Entourage“, taucht auf im Johnny-Depp-Film „Blow“ und als Namensgeber eines Flughafens im Videospiel „Grand Theft Auto: Vice City“. – „Ich weiß, er taucht in Computergames und Genre-Romane auf eine lächerlich trivialisierte Weise auf“, sagt Vásquez. „Davor habe ich angesichts der Opfer Escobars keinen Respekt. Zwischen 6.000 bis 8.000 Menschen sind durch Escobar Kartell umgekommen. In Kolumbien gibt eine große künstlerische Auseinandersetzung. Eine TV-Serie mit Andrés Parra, einem der besten Schauspieler in Lateinamerika erzählt von jener Zeit. Es gibt grandiose Romane und Sachbücher ernsthafter Schriftsteller und Journalisten, sogar ernsthafte Popmusik.“

Vásquez befreit mit seinem Roman den schaurigen Pop-Mythos, der um diesen Massenmörder herum entstanden ist, um in einem Wechsel aus persönlichen und fremden Erinnerungen der Siebziger bis Neunziger, aus Selbst- und Fremdbeobachtungen im Jetzt und dokumentarischen Szenen einen Gesellschaft im Ausnahmezustand zu beschreiben. Kolumbien wird selbst heute noch von Kartellen terrorisiert. Die Familie Pablo Escobars ist 1993 unter falschem Namen geflohen. Juan Gabriel Vásquez lebt nach langen Jahren in Barcelona wieder in Bogotá. Ob es gefährlich sei, von dort über Escobar zu schreibe? – „Es ist nicht“, sagt Vásquez. „Drogenhändler lesen keine Romane. Jedenfalls hoffe ich das inständig.

Juan Gabriel Vásquez: „Das Geräusch der Dinge beim Fallen“, übersetzt von Susanne Lange, Schöffling & Co., 296 Seiten, 22,95 Euro / Das Hörspiel zum Roman, 2014 vom WDR produziert, erscheint in Der Audio Verlag.

 

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