Permanent arbeiten wir daran, das Geheimnis der Gewalt zu lüften. Unüberschaubar erscheinen die Angebote an True-Crime-Podcasts, Psychopathenportraits, Opfergeschichten und Narcissistic Abuse-Ratgebern. Daniel-Pascal Zorn („Mit Rechten reden“) nutzt einen neuen Zugang, indem er die Gewalt auf der einen und das Geheimnis auf der anderen Seite zusammenbringt. Seine Frage ist groß: „Was ist das Geheimnis der Gewalt? Warum entkommen wir ihr nicht, obwohl wir es seit Menschengedenken versuchen?“ In seinem heute erscheinenden Buch ist das Kapitel „Seelischer Vampirismus“ angelehnt an den Roman „Sandbergs Liebe“. Der Text erscheint hier mit freundlicher Genehmigung des Autors.

Stellen Sie sich vor, Sie würden einen Menschen kennenlernen, der Sie bezaubert. Sie sind schon länger auf der Suche, blicken auf einige gescheiterte Beziehungen zurück, fühlen sich einsam. Nun tritt dieser Mensch in Ihr Leben und macht es wieder lebenswert. Sie fühlen sich beschwingt, beglückt, verliebt. Vielleicht ein bisschen überschwänglich, schließlich kennen Sie sich gerade zwei Wochen. Und doch reden Sie beide bereits über eine gemeinsame Zukunft.

Wer lange allein ist, der kennt dieses Gefühl. Endlich angekommen. »Endlich einmal etwas, das länger als vier Jahre hält.« Bei der Band Tomte bezieht sich das auf den Hund, mit dem der Sänger einen Spaziergang an der Elbe macht. Ein Hund holt dankbar das Stöckchen oder den Ball, den man geworfen hat. Wenn er gut erzogen ist, dann sitzt er, wenn man »Sitz!« sagt, oder legt sich hin, wenn man »Platz!« sagt. Er kommt, wenn er soll, und er geht, wenn er soll.

In einer Beziehung ist das nicht so einfach. In einer Beziehung, zumindest bei Erwachsenen, ist man gleichberechtigt. Zumindest sollte es so sein, damit das Ganze länger als vier Jahre hält. Weitere Punkte, die für einen guten Zusammenhalt wichtig sind: gemeinsame Interessen oder Hobbys, gemeinsame Wertvorstellungen, eine gemeinsame Auffassung davon, wieviel Intimität in einer Beziehung wichtig ist und wie das aussehen soll. Nun kann man schlecht mit einer Strichliste beim ersten Date auflaufen. Dafür hat die Kulturindustrie Formen der Vermittlung gefunden, Kontaktbörsen und Dating-Apps, dank derer man sich ganz komfortabel näher kennenlernen kann. Denn das Wichtigste ist ja schon geklärt.

Sie haben nun also diesen Menschen kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Er geht Ihnen nicht mehr aus dem Sinn und wenn er bei Ihnen ist, können Sie die Augen nicht mehr von ihm abwenden. Alles an ihm erscheint Ihnen liebenswürdig. Die Art, wie er seinen Kopf hält, wenn er überlegt. Die Art, wie seine Augen die Farbe ändern, wenn er sich freut. Die Welt ist rosarot. Manchmal, wenn das Gefühl einen zu überwältigen scheint, kommen Zweifel. Ist dieses Gefühl echt? Weiß man selbst, was man will, weiß es der andere? Die absolute Sicherheit, die einem die Verliebtheit gibt, wird begleitet vom Abgrund der schlechten Erfahrungen. Die Brücke über diesen Abgrund heißt Vertrauen und dieses Vertrauen, so sagt man sich, braucht eben Zeit.

Ganz sicher ergeht es auch dem Partner so. Auch er wird seine schlechten Erfahrungen in der Vergangenheit gemacht haben. Je älter man wird, desto schwerer ist es, anderen Menschen zu vertrauen. Gerade dann, wenn man oft enttäuscht wurde. Umso dankbarer ist man für diesen einen Menschen, der einen gerade so glücklich macht. Auch er hat natürlich Ängste, genau wie man selbst. Deswegen sind diese Momente, in denen er einen so angstvoll ansieht und so komische Dinge sagt, verständlich. Man möchte für ihn da sein und ihm die Sicherheit geben, die man damit zugleich sich selbst gibt. Ich bin da für dich und wir sind da füreinander.

Ja, es ist schon manchmal ein bisschen komisch. Aber man kennt das ja von sich selbst. Die Liebe macht verrückte Sachen mit den Menschen. Gestern zum Beispiel wollte Ihr Partner von Ihnen, dass Sie sich etwas anderes anziehen. So könne man mit Ihnen nicht unter die Leute gehen. Das hat Ihnen schon irgendwie eingeleuchtet. Warum also nicht? Auf der Party, auf der Sie danach waren, hatten Sie beide großen Spaß. Aber als Sie danach im Bett lagen, fing Ihr Partner plötzlich zu weinen an. Ob Sie denn nicht gemerkt hätten, wie schlecht es ihm eigentlich geht?

Sie sind verwirrt. Sie wissen selbst nicht mehr, was stimmt. Haben Sie oder haben Sie nicht die hübsche junge Frau gegenüber oder den gutaussehenden jungen Mann auf der anderen Straßenseite angelächelt? Sie erinnern sich gar nicht daran, Ihr Partner schon. Er macht Sie darauf aufmerksam, räumt es Ihnen ein, bewertet es dann negativ, bestreitet aber, dass es sich um einen Vorwurf handelt.

Nach und nach beginnen Sie, an allem zu zweifeln. An sich selbst, an der eigenen Wahrnehmung, an Ihrem Partner. Das macht der Ihnen natürlich zum Vorwurf. Und nicht nur das. Er erzählt es auch seinen Freunden. Das erfahren Sie, als Sie einen gemeinsamen Abend mit dem Partner verbringen wollen, dann aber plötzlich seine Freunde dasitzen. Man bescheidet Ihnen knapp, das habe man Ihnen ja mitgeteilt. Sie können sich nicht daran erinnern. Aber die Freunde wissen dafür ganz genau, was in Ihrer Beziehung so los ist.

Sie geben sich selbst die Schuld. Der Partner leidet, also müssen Sie etwas ändern. Sie tun, wie Ihnen gesagt – Sie kaufen neue Kleidung, Sie besorgen sich ein Medikament für ihre ständig verstopfte Nase, mit der Sie »hässlich« klingen, Sie planen den gemeinsamen Umzug, den Ihr Partner beschlossen hat. Sie erinnern sich ganz genau an das Gespräch, in dem Sie beschrieben haben, wie Sie die neue gemeinsame Wohnung mit Ihren Sachen dekorieren wollen. An eine negative Reaktion können Sie sich nicht erinnern. Dennoch reagiert Ihr Partner entsetzt. Er beschuldigt Sie, ihm Ihr Leben aufdrängen zu wollen. Sie ahnen, dass etwas nicht stimmt. Aber Sie schieben es immer noch auf die normalen Streitigkeiten, die man in einer Beziehung eben so hat. Also verteidigen Sie sich.

Das hätten Sie nicht tun sollen. Ihre Verteidigung wird von Ihrem Partner aufgenommen, ausgebaut und gegen Sie gewendet. Wo Sie Einwände hatten, haben Sie in der Rückbetrachtung herumgeschrien. Wo Sie wütend waren, haben Sie hasserfüllte Blicke in seine Richtung geworfen. Als Sie einmal weinend zusammengebrochen sind, weil Sie das alles nicht mehr ertragen haben, beschuldigt man Sie im Nachhinein, den Partner durch Tränen erpresst zu haben. Egal was Sie machen – es wird gegen Sie verwendet. Was Sie behaupten, ist Lüge und Täuschung. Verhalten Sie sich ruhig, sind Sie abwesend und kalt. Reagieren Sie wütend, sind Sie aggressiv und gefährlich. Sind Sie verzweifelt, setzen Sie Ihren Partner unter Druck.

Mittlerweile sind Sie, in wenigen Wochen, auf den Hund gekommen. Ihr Leben ist aus den Fugen. Gute Freunde, die Sie anfangs gewarnt haben und deren Warnungen Sie in den Wind geschlagen haben, schauen Sie mitleidig an. Ihre Wohnung, Ihr Rückzugsort, ist für einen Umzug vorbereitet, der nie kommen wird. Sie stehen laufend unter Druck, sich beweisen zu müssen. Was zählt, ist das Wort Ihres Partners. Weil Sie nicht mehr wissen, was stimmt und was nicht, verlieren Sie den Überblick. Sie verstricken sich in Widersprüche, die knallhart gegen Sie verwendet werden.

Am Ende ist Ihr Traum vom perfekten Partner vernichtet. Aber ebenso vernichtet ist Ihr bisheriges Leben, Ihr Selbstbewusstsein, Ihre vorher doch so gefestigte Identität. Sie übertragen Verhaltensweisen Ihres Partners auf Ihre Freunde, die sich von Ihnen abwenden. Sie isolieren sich selbst immer weiter, in einer Welt, in der es nur noch die Stimme des Anderen gibt. Diese Stimme verkündet Ihnen letzte Chancen, letzte Bewährungsproben. Manchmal, so haben Sie den Eindruck, schaffen Sie es, ihn zu überzeugen. Aber dann passiert wieder ein Unglück, das Sie sich nicht erklären können.

Wenn Sie Glück haben, endet diese Beziehung in einem großen Knall. Natürlich ist Ihr Partner das Opfer und Sie sind der Täter. Wenn man bedenkt, wie unglücklich manche Ihrer Formulierungen waren, stimmt das irgendwie auch. Nun kommt alles auf den Tisch. Die Freunde Ihres Partners schicken Ihnen erboste Nachrichten, in denen Sie beschuldigt werden, Ihren Partner zugrunde gerichtet zu haben. Jeder Schritt Ihrerseits, eine Einigung herzustellen, wird als Manipulationsversuch gedeutet. Das Ende ist vergiftet, die Schuld und die Ungewissheit fressen Sie auf. Die nächsten Wochen versuchen Sie zu verstehen und schreiben Ihrem Ex-Partner Briefe. Sie bekommen lange Litaneien von Anschuldigungen zurück, die Ihnen deutlich machen, das Böse in Person zu sein.

Wenn Sie weniger Glück haben, leben Sie Ihr ganzes Leben in einer solchen Beziehung. Dann wird Ihr Partner Sie irgendwann so eingestellt haben, dass er bei Ihnen Hoffnung und Verzweiflung genau regulieren kann. Natürlich überwiegt die Verzweiflung – aber der Funken Hoffnung, den ein gutes Gespräch, eine gemeinsame Nacht, ein geteiltes Lachen erzeugt, reicht aus, um Jahre der Erniedrigung auszuhalten.

Daniel-Pascal Zorn: „Das Geheimnis der Gewalt“, Klett-Cotta, 204 Seiten, 20 Euro

 

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