Computerspiele lesen

Auf der Gamescom traf ich zum ersten Mal den Berliner Kulturwissenschaftler Christian Huberts. Ich hatte zu dem Zeitpunkt seine 2010 erschienene Studie „Raumtemperatur. Marshall McLuhans Kategorien ‚heiß‘ und ‚kalt‘ im Computerspiel“ gelesen und auf der Gamescom selbst den Sammelband „Zwischen|Welten. Atmosphären im Computerspiel“ kennengelernt (das ich dann später hier in 1LIVE Plan B vorstellte). Bei dem heute erschienenen Band „New Level – Computerspiele und Literatur“ sind wir beide erstmalig gemeinsam vertreten (meine Spekulation „Comfort Lounge 2.0“ gibt es hier). Herausgeber Thomas Böhm und Christian Huberts selbst gestatteten mir, „Computerspiele lesen“ im Blog vorab zu zeigen, als Teaser einerseits auf den Metrolit-Band (hier gibt es weitere infos), aber auch als Hinweis auf zwei Veranstaltungen: Christian Huberts wird am 17.9. auf Jaroslav Rudiš treffen bei der Veranstaltung „Den Krieg spielen – als Attentäter auf Reinhard Heydrich“. Ich werde die Ehre haben, mit Ulrike Draesner, Andreas Lange und Ryad Assani-Razaki bereits diesen Montag über „Autoren denken Games“ zu sprechen. Zur Vorbereitung gibt es also Christian Huberts Essay „Computerspiele lesen“, mit einem passenden Beitragsbild vom Autor.

Computerspiele lesen

Es wird jetzt ein wenig ungemütlich, aber bei der Idee, ein Computerspiel zu lesen, rolle ich üblicherweise mit den Augen. Für Vertreter der Game Studies – der interdisziplinären Beschäftigung mit digitalen Spielen – ist das ein frustrierendes Thema. Sich ernsthaft mit Computerspielen beschäftigen, das war in der Vergangenheit – und auch heute noch – nur legitim, wenn von vornherein der kulturelle Bezug zum Bekannten, zum Etablierten oder zum bereits Auratisierten deutlich gemacht wurde. Kein Diplomthema, kein Dissertationsexposé, kein Projektantrag und keine Forschungsfinanzierung ohne ein zähneknirschendes „und“. Computerspiele und Film. Computerspiele und Theater. Computerspiele und Bildende Kunst. Computerspiele und Literatur. Als besäßen digitale Spiele – neben all ihren tatsächlichen kulturellen und medialen Bezügen – keine eigene Medialität und kein unabhängiges kulturelles Dasein. Man stelle sich für einen Moment lang vor, man könnte nur ernsthaft über Bücher sprechen, wenn man sie zunächst mit Computerspielen vergleicht und darüber spekuliert, wie sie wohl zu spielen sind. Mitnichten sind digitale Spiele im Mainstream der Hochkultur angekommen, vielmehr scheinen Enklaven des Literarischen, des Filmischen, des Theatralen und des Künstlerischen im Computerspiel von den etablierten Kulturformen annektiert worden zu sein. Denn gut ist, was nicht vollkommen fremd ist. Der unheimliche Rest bleibt Spielzeug, Kinderkram, Killerspiel, flüchtiger Trend, Zeitverschwendung oder wird im Museum of Modern Art als gutes Design neben Bauhaus-Möbeln und schicken Lampenschirmen ausgestellt. Wir gehen mit dem Rücken voran in Richtung Zukunft und betrachten sie nur durch den Rückspiegel, wie der kanadische Medientheoretiker Marshall McLuhan dieses Phänomen treffend umschrieben hat.

Advent

Trotz des immer wieder prophezeiten Endes der Gutenberg-Galaxis sind die Kulturtechnik des Lesens und die Schrift als kulturelles Interface nach wie vor absolut prägend für unsere Kultur. Selbst relativ junge Technologien wie Internetseiten, E-Mails oder E-Books sind eher elektronische Simulationen bekannter und etablierter Muster als ein konsequentes Umarmen der Möglichkeiten des Digitalen und Vernetzten. Besonders bei der Berührung von Computerspielen und Literatur wird deutlich, wie stark die schriftliche Alphabetisierung unser Nachdenken über aktuellere Kulturformen beeinflusst. Eine passende Anekdote betrifft dabei die Ankunft von ADVENT (1976), dem ersten sogenannten Text-Adventure. Der Informatiker und Freizeit-Höhlenforscher William Crowther entwickelte in den 1970ern Routing-Protokolle für das ARPAnet, einen direkten Vorläufer des World Wide Web. Das ist jene Technologie, die auch heute noch dafür sorgt, dass Katzenfotos möglichst schnell und effizient ihren Weg durch ein riesiges Netzwerk aus Computern bis zum heimischen Monitor finden. Aus Sehnsucht zu seinen Kindern – nach der Scheidung von seiner Frau Patricia – programmierte Crowther ein kleines Spiel, basierend auf den Problemen der Wegfindung im ARPAnet. Und da es für die wenigsten Menschen weder nachvollziehbar noch unterhaltsam ist, Netzwerkadressen einzutippen und so effizient durch die Knotenpunkte eines mathematischen Graphen bis zum Ziel zu navigieren, hat er schlicht die schriftliche Erzählung einer Höhle damit verknüpft. Aus Netzwerkadressen, Knotenpunkten und Links wurden Himmelsrichtungen, Räume und Gänge, angereichert mit Fantasy-Elementen aus dem Pen & Paper-Rollenspiel Dungeons & Dragons. Texte – so die Moral dieser Anekdote – sind im Text-Adventure lediglich eine Handreichung für die Spielenden, um überhaupt sinnvoll mit den Prozessen und Regelstrukturen von Computern umgehen zu können. Jede andere Erzählung – ein Märchenwald, eine Raumstation, ein Bürogebäude etc. – hätte für ADVENT denselben Zweck als lesbare Schnittstelle erfüllt. Bis heute hat sich diese Funktion von Text für Computerspiele kaum geändert. Dennoch wird nach wie vor der Literatur in Spielen weitaus mehr Bedeutung zugemessen als den Spielen selbst – zumindest im öffentlichen Diskurs.

Verlesen

Man kann audiovisuelle und narrative Interfaces lesen, aber das Spiel muss man spielen. Sowohl Kritik als auch Lob an Computerspielen erweisen sich so nicht selten als Missverständnisse einer nur oberflächlichen Leseweise. Die zum Glück überholte Debatte um sogenannte Killerspiele konnte überhaupt erst entstehen, weil die kritische Lektüre von digitalen Spielen wie Counter-Strike (2000) ausschließlich auf Ebene der Zeichen und Symbole von Gewalt – Terrorismus, Blut und Schusswaffen – stattfand. Der Diskurs kreiste um brutale Bilder und Erzählungen, nicht aber um die im Kern neutrale und wettbewerbsorientierte Spielmechanik. Ähnlich sieht es bei der Verleihung des Deutschen Computerspielpreises aus, die auf Antrag des Bundestages seit 2009 jährlich stattfindet. Dort werden wiederholt digitale Spiele mit dem Hauptpreis ausgezeichnet, die in direkter Tradition zu ADVENT stehen. Die Preisträger A New Beginning (2010), Chaos auf Deponia (2012) und The Inner World (2013) sind klassische Adventures, in denen die Spielenden nach wie vor mit Hilfe einer orientierenden Erzählung durch ein Netzwerk aus Entscheidungspfaden bis zum Zielpunkt navigieren. Natürlich haben alle diese Spiele ihre Auszeichnung verdient, sind herausragende technologische Artefakte und präsentieren mehr oder weniger gelungene Geschichten. Es ist aber dennoch bemerkenswert, dass in einer Literaturnation so häufig Computerspiele mit dem größten öffentlichen Lob bedacht werden, die sich ganz offensichtlich an gewohnte Kulturtechniken und Rezeptionsmodi anlehnen und so für die Öffentlichkeit leicht zu verdauen bleiben. Ganz anders sah es da beispielsweise aus, als im Jahre 2012 mit Crysis 2 (2011) ein lupenreiner First-Person- beziehungsweise Ego-Shooter zum besten deutschen Computerspiel erklärt wurde. Da sich der Spielverlauf von Kritikern der Preisvergabe oberflächlich nur als martialischer Gewaltexzess lesen ließ, war ein Eklat vorprogrammiert. Liegt der Schwerpunkt nicht mehr auf dem gemächlichen Genuss einer Erzählung, sondern auf ästhetischem Taumel und dem affektiven Ausführen von (Tötungs-)Handlungen, zeigen sich Vertreter von Politik, Bildung und Hochkultur plötzlich wenig kulturoptimistisch.

Second-Person-Shooter

Das satirische Online-Nachrichtenmagazin The Onion sorgte zur Veröffentlichung von Wolfenstein: The New Order (2014) – einem Nachfolger des berüchtigten Wolfenstein 3D (1992) – für amüsiertes Schmunzeln unter den Spielenden. Eine Meldung behauptete, das Spiel ließe sich nun auch im ebenso revolutionären wie fiktiven „Second-Person-Shooter Mode“ spielen und lieferte auch gleich das passende Beweisvideo. Statt sich in der Ego-Ansicht gnadenlos durch Horden von Nazi-Schergen zu ballern, sah man nun lediglich einen älteren Herren mit weißem Bart im gemütlichen Schaukelstuhl sitzen, der die Handlung von Wolfenstein – vom einzelnen Tastendruck über dramatische Schusswechsel bis hin zur Beschreibung der Umgebung – detailliert nacherzählt. Die Spielenden bleiben dabei absolut passiv. Das ist witzig, weil es so absurd ist, die Möglichkeit des eigenen Eingreifens für eine bloße Nacherzählung aufzugeben. Mir bleibt das Lachen jedoch im Halse stecken, denn diese Passivität gegenüber digitalen Spielen ist im öffentlichen Diskurs kein Witz, sondern gehört wohl zu den verbreitetsten und gleichzeitig gefährlichsten kritischen Haltungen. Die Überzeugung, es würde ausreichen, sich Computerspiele erzählen zu lassen, um ein vollständiges Verständnis von ihnen zu entwickeln, ist direkte Folge einer zu kurz gefassten Idee davon, digitale Spiele lesen zu können. Die Ausreden zum Schutz des intellektuellen Egos sind dabei zahl- und trickreich. Niemand begibt sich gerne auf ein Spielfeld, auf dem das jahrzehntelang eingeübte Wissen und die konditionierten Kulturtechniken beinahe nutzlos sind. Die eigene Unzulänglichkeit im Umgang mit Computerspielen wird dabei allzu schnell auf das Medium zurückprojiziert. Wer Tausende Bücher bezwingen konnte, aber nicht ein einziges digitales Spiel, darf die Verantwortung bequem abwälzen. Das vermeintlich triviale Spielzeug muss schuld sein! Und schließlich muss man ja auch nicht jeden Scheiß selbst ausprobieren, um sich eine Meinung zu bilden, oder? Aber während ein Roman oft sogar dadurch gewinnt, dass er vorgelesen wird, verliert ein Computerspiel so nahezu den ganzen Kern seines Daseins. Der Glaube, Computerspiele lesen zu können wie ein Buch oder anschauen zu können wie einen Film, ist das gröbste Missverständnis, dem man bei diesem Medium erliegen kann.

Lesen lernen

Falls die ersten Leser jetzt ebenfalls schon entnervt die Augen rollen – keine Sorge, es wird versöhnlicher. Aber es ist nötig, ein paar Illusionen zu zerstören, bevor es darum gehen kann, das Lesen als Zugang zu Computerspielen zu rehabilitieren. Zunächst muss man sich klar machen, dass auch die Lektüre von Literatur gelernt werden musste. Dass uns anfangs vorgelesen wurde, war nur der allererste Schritt. Bis zu einer soliden Kompetenz im Verständnis selbst schwierigster Texte, musste in der Regel eine langjährige Folge von aktiven Versuchen und Fehlschlägen erduldet werden. Von anderen Sprachen, Schriftsystemen, der Vielfalt der Textgenres und -formen sowie diversen literarischen Experimenten möchte ich gar nicht erst anfangen. Lesen lernen war verdammt hart und zeitaufwendig, nur vergessen wir das gerne. Was für ein Größenwahn also, Computerspiele einfach mal so lesen zu wollen. Auch digitale Spiele erfordern einen Lernprozess und der ist ebenso steinig. Computerspiele anzuschauen, sie sich zeigen zu lassen, kann wie beim Lernen von Schrift nur ein erster Schritt sein. Die eigentliche Herausforderung ist die Alphabetisierung mit den Regelstrukturen und Prozessen des Computerspiels durch eigene aktive Praxis. Der Gamedesigner und Spieleforscher Eric Zimmerman nennt die dadurch erworbene Kompetenz „Gaming Literacy“. Solch ein tiefes Verständnis von spielerischen Systemen und dem Design von Spielen hält er für die wichtigste Kulturtechnik des 21. Jahrhunderts. Schließlich sind Computerspiele nur ein Vorreiter der tiefgreifenden gesellschaftlichen Umwälzung durch algorithmische Prozesse und der Logik des Digitalen, die sich in den etlichen Diskursen um Google, Privatsphäre, Überwachung, Big Data und Gamification deutlich zeigt. Vor digitalen Spielen zu kapitulieren heißt also langfristig auch vor aktuellen Entwicklungen der Gesellschaft zu kapitulieren.

Allegorithmen

Wer Hunderte Romane gelesen hat, wird typische Muster erkennen. Charakterzeichnungen, die sich gleichen, erzählerische Tropen, die immer wieder aufgegriffen werden, Handlungsdramaturgien, die sich bewährt haben. Das Hundertste Buch muss so vielleicht gar nicht mehr vollständig gelesen werden, um sich ein grundlegendes Bild davon machen zu können. Die Basis für jede kritische Bewertung ist ausgiebige Erfahrung mit dem Gegenstand. Bei Computerspielen verhält es sich genauso. Es gibt spielerische Muster, die sich wiederholen, die jedoch erst nach ausführlicher Praxis als solche wahrnehmbar werden. Und erst in der stetigen Wiederholung wird der feine Unterschied deutlich zwischen mittelmäßigen Spielen, die sich mit kulturellen Bezügen den Anschein des Besonderen geben, und Spielen, die tatsächlich aus der generischen Masse herausstechen. Es ist der entscheidende Unterschied zwischen Computerspielen, die aus ihrer eleganten Spielmechanik Bedeutung oder Schönheit gewinnen, und solchen, die sich mehr oder weniger willkürlich mit austauschbaren Inhalten schmücken, ohne dabei spielerisch überzeugen zu können. So muss man zum Beispiel zwischen den Zügen im Schach keine dramatischen Schlachtverläufe aus der Ilias rezitieren, denn das Spielsystem ist bereits selbst eine wirksame Allegorie auf Krieg – mit Angriffen, Rückzügen, Finten und Bauernopfern. Der Kulturwissenschaftler Alexander R. Galloway nennt diese Bedeutungsebene digitaler Spiele den „Allegorithmus“. In eine ähnliche Kerbe schlägt der Medienwissenschaftler Ian Bogost mit dem Begriff der „procedural rhetoric“ – das Treffen überzeugender Aussagen durch computerisierte Prozesse. Hier liegt wohl der deutlichste Unterschied zum Lesen von Literatur. Das Computerspiel wird nicht durch ein lineares Abscannen von sinnvollen Zeichenkombinationen gelesen, sondern durch das sinnvolle Teilnehmen an und Handeln in einem Regelsystem, das durch seine in Bewegung gesetzten Algorithmen flüchtige Bedeutung generiert. Bloße Nacherzählungen digitaler Spiele zwängen diese dynamischen Aussagen wiederum in einen linearen und statischen Zusammenhang, der nicht repräsentativ für das Computerspiel ist. Der Allegorithmus wird zur Allegorie verkürzt. Prozedurale Rhetorik wird bloße Rhetorik. Das Spiel wird Buch, Bild oder Film.

Atmosphären

Der Fokus von Computerspielen auf allegorithmische Prozesse bedeutet jedoch nicht, dass regelhafte Komplexität gleichzusetzen ist mit Qualität. Vielmehr kommt es im Gamedesign – ebenso wie beim Schreiben von Literatur – darauf an, das passendste Stilmittel zu finden, um den angestrebten ästhetischen Effekt oder die gewünschte Aussage zu transportieren. Das bedeutet für ein Spiel wie dem Raumfahrt-Sandkasten Kerbal Space Program (2011), dass eine hochkomplexe Simulation von physikalischen Kräften notwendig ist, um den Spielenden den erwarteten Realismus zu bieten. Ein Spiel wie Gone Home (2013) kann jedoch weitgehend auf komplexe Regelmechanik verzichten und konzentriert sich auf das Erzählen einer räumlichen Geschichte. So lernen wir in dem Spiel die US-amerikanische Familie Greenbriar nicht durch literarische Beschreibungen kennen, sondern wir durchstöbern die Architektur des Familiensitzes nach Lebenszeichen der Bewohner. Aus Fotos an den Wänden, Rechnungen im Papierkorb und Geheimverstecken auf dem Dachboden setzt sich so langsam eine räumliche Erzählung über Drogenmissbrauch, Ehekrisen und erwachende Sexualität zusammen. Der Kulturwissenschaftler Henry Jenkins nennt diese Form des Geschichtenerzählens

„Spatial Storytelling“. Ganz egal ob Dear Esther (2012), Journey (2012) oder Proteus (2013), immer mehr digitale Spiele legen ihren Schwerpunkt auf das Design starker Atmosphären und dichter Raumerzählungen. Computerspiele sind geradezu prädestiniert dafür, auf diese Weise Bedeutung und Stimmung zu transportieren und es zeigt sich ein deutlicher Trend zum Verzicht auf übliche Spielmuster – wie etwa Logik-Rätsel, Zielen und Schießen oder das Sammeln und Optimieren von Ressourcen. Für die Lektüre von Computerspielen bedeutet das, dass wir neben ihrer Regelmechanik ebenfalls Räume, Gebäude und Landschaften lesen sowie ihre Atmosphären spüren lernen müssen, ganz so wie es der Philosoph Gaston Bachelard in seiner Poetik des Raumes anhand von Literatur vormacht. Das Haus der Familie Greenbriar aus Gone Home ist ein „Haus der Erinnerung“, das die Spielenden von den verdrängten Traumata im Keller bis zu den Träumen auf dem Dachspeicher durchlesen.

Die Romane des 21. Jahrhunderts?

Wenn man Computerspiele unbedingt mit früheren Kulturformen vergleichen muss, dann also weniger mit Literatur und mehr mit Konzeptkunst, Performance, Musik oder Architektur. Es geht in digitalen Spielen um Notationen und Aufführungen, Rhythmen und Rückkopplungen, Akustik und Atmosphäre. Man liest sie wie einen Tanz, wie eine Geisterbahn, wie ein Echo oder eine Stimmungslage. Und die Lektüre ist immer zugleich Ko-Lektüre, ein wechsel- und gegenseitiges Auslesen von Spielenden und Spiel. Das heißt nicht, dass digitale Spiele nichts mit Romanen gemeinsam haben, sondern nur, dass Literatur lediglich ein mögliches Element unter vielen anderen ist. Es gibt Computerspiele, die genial mit Literarizität arbeiten, so wie etwa das schwedische Mobile Game Device 6 (2013), das seine Texte in begehbare Landkarten verwandelt. Aber die Romane des 21. Jahrhunderts sind Computerspiele vor allem in ihrer potenziellen Bedeutung für unsere Kultur. Sie entwickeln sich zu einem zentralen Medium für Unterhaltung, Vermittlung, Aufklärung und Austausch. Wer jedoch glaubt, mit der neu gewonnenen Lesekompetenz für digitale Spiele auf ein Wunderland herausragender Kulturgüter zu stoßen, wird enttäuscht sein. Bei aller angebrachter Euphorie haben Computerspiele noch einen langen Weg vor sich und erweisen sich vergleichsweise selten als relevant.

Die Alphabetisierung mit ihnen macht vor allem deutlich, wie wenig sich seit ihren Anfängen in den 1970ern eigentlich verändert hat und wie ermüdend regelmäßig bewährte Spielkonzepte iteriert werden. Experimente sind auf dem Vormarsch, aber der Kern der Computerspielkultur ist noch geprägt von beinhartem Konservatismus. Industrie und Kundschaft bilden einen exklusiven, weißen, männlichen und hedonistischen Klub, der alles abseits von Machtfantasien, Heteronormativität und Pop zuweilen aggressiv abwatscht. Hier schweift der Blick neidisch zur Literatur, die in ihrer langen Geschichte zwar auch nicht vor Erstarrungen und internen Krisen gefeit war, aber doch eine solide Praxis der Progression und Ausdifferenzierung entwickelt hat. Auch wenn Computerspiele also keine Literatur sind, ist der literarische Blick auf Computerspiele wichtig. Der Betriebsblindheit lässt sich am besten mit einem unbefangenen Blick von außen begegnen. Umso besser, wenn dieser Blick Computerspiele ohne Misskonzeptionen lesen kann. Wenn digitale Spiele nicht mehr zum Roman gemacht werden, sondern Romane in ihrer Umsetzbarkeit als Spiel befragt werden, entsteht eine reiche Quelle an neuen spielerischen Ansätzen. Es wird höchste Zeit, dass wir mehr Computerspiele lesen können, die noch nicht spielbar sind!

(aus: „“New Level“, herausgegeben von Thomas Böhm, 180 Seiten, 18 Euro)

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5 Kommentare

  1. […] von 2014, dem Sammelband »New Level – Computerspiele und Literatur«, zu dem ich mit meinem Text »Computerspiele lesen« beigetragen habe, gibt es neue Rezensionen. Auf Superlevel schreibt Sebastian […]

  2. […] Verlag oder bei Amazon.de zugreifen. Mein Text steht schon eine ganze Weile auf Jan Drees Blog »Lesen mit Links« online. Da es aber auch einer meiner Lieblingstexte ist, gibt’s in jetzt ebenfalls […]

  3. […] Ich bin mit einem Essay zum »Lesen« von Computerspielen dabei und kritisiere eine Haltung gegenüber Computerspielen, die sich in passiver Rezeption erschöpft. Auf Jan Drees Blog »Lesen mit Links« lässt sich der Text kostenlos spielen: […]

  4. […] von ihm ist auch das Beitragsbild). Anlass war der gerade erschienene „New Level“-Sammelband im Metrolit-Verlag (herausgegeben von Thomas Böhm). Außerdem erschien „Dichterjuristen – Studien zur Poesie des […]

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