Basken, Borderline und Remixmeisterin Sibylle Berg

Die ETA, Alexa Hennig von Langes schlechtes Gewissen, ein Lotto-Gewinn und „Die Erzählerinnen“ bilden das literarische Jahresarchiv von 2007, als die Nobelpreisträgerin Doris Lessing hieß, Katalonien Ehrengast war auf der Frankfurter Buchmesse und Martin Mosebach den Büchnerpreis verliehen bekam.

Niemand weiß, wohin ETA-Aktivist Joseba Sarrionandia 1985 geflohen ist. Seine Spur verliert sich irgendwo in Algerien. Als Literat ist er dagegen präsent und national umfeiert. „Der gefrorene Mann“ erzählt von Goia, einem baskischen Krankenpfleger in Nicaragua, der Stimme und Erinnerung verloren hat. Das klingt nach klassischem Exilschicksal. Freundin Maribel möchte helfen und reist mit dem Kranken zu einem alten Freund. Die Konfrontation mit der Vergangenheit soll Goias Amnesie heilen. Da beide vor zwanzig Jahren Spanien aus politischen Gründen verlassen mussten, reisen sie mit gefälschten Pässen durch Lateinamerika, unter Lebensgefahr. Der Roman mäandert zwischen Fluchtthriller, Erinnerungen an ein Schuljahr in Spanien der frühen 70er Jahre und der fantastischen Erzählung über eine Südpolexpedition. Einige Passagen wirken verworren, andere schillern faszinierend wie antarktisches Eis im Sonnenschein. Ein gutes Buch. (Joseba Sarrionandia: „Der gefrorene Mann“, Blumenbar, 460 Seiten, 22 Euro)

Alexa Hennig von Langes Roman „Risiko“ zeigt, was wir alle wissen: Fremdgehen lohnt sich nicht. Stewardess Lilly gefährdet gleich zwei Familienleben und muss hilflos zusehen, wie ihr kurzer Seitensprung mit dem Nachbarn im Chaos endet. Während ihr ahnungsloser Ehemann Erik mit Alarmanlagen, einbruchsicheren Fenstern und Panic Room am Hochsicherheitsgefühl seiner Familie bastelt, kämpft Lilly gegen eine Situation, in der Bunker wenig nützen.  Irene, die betrogene Ehefrau von Nebenan, wendet das Blatt nämlich und stalkt Lilly auf perfide, therapiewürdige Art. Nein, sie verrät Erik nichts, stattdessen vergewaltigt sie Lilly und behauptet, verknallt zu sein. Sie will ihren Mann verlassen – und ihren lesbischen, alles verzehrenden Lüsten frönen; aus Rache. Irgendwann, mitten bei der Arbeit, klagt Lilly: „Ich will aussteigen.“ Da antwortet ihr Kollege: „Das geht leider nicht, Kindchen. Wir befinden uns in zehntausend Meter Höhe.“ Ein Buch für wagemutige Angsthasen. (Alexa Hennig von Lange: „Risiko“, Dumont, 250 Seiten, 19,90 Euro)

Pop-Autor Joachim Lottmann schaut dorthin, wo andere gerne wegsehen. Deswegen versammelt sein Buch „Auf der Borderline nachts um halb eins“ glänzende Texte über B-Momente im Leben. Da steht Lottmann auf dieser oberpeinlichen Charity-Party zwischen Menschen, die allen Ernstes glauben, Bob Geldorf sei ein Popstar. Und er fragt sich, ob Pete Doherty und die Babyshambles ebenfalls hier auftauchen könnten. Natürlich können sie es nicht. Deshalb fragt der Autor – er will dieses kleine, beschämende „Nein“ hören. Vor vorn sieht sein Buch wie ein Hi-Fi-Platte aus, konsequent schwarz-gelb gehalten. Drinnen spielt Lottmann seinen eigenen Sound und erinnert in netten Portraits an heutige und an gestrige „Leute“ wie Benjamin von Stuckrad-Barre, Ariane Sommer, Kathrin Passig, Sara Wagenknecht, Tokio Hotel und Philip Boa. Er besucht Klagenfurt und die Echo-Verleihung und ätzt gegen „solche fetten Hausmeister-Typen wie Grönemeyer“, gegen „die alten Kulturtreibler“ in der Jury und gegen die ganzen Reinhard Meys, Westerhagens und Phil Collins dieser Welt: „Elende Krämerseelen!“ – „Die einzige authentische Person ist Yvonne Catterfeld.“ Dieser Mann ist wahrlich nicht nett – zum Glück. Denn nett sind schon alle anderen.“ (Joachim Lottmann: „Auf der Borderline nachts um halb eins – Mein Leben als Deutschlandreporter“, KiWi, 272 Seiten, 9,95 Euro)

Remixmeisterin Sibylle Berg schildert „Die Fahrt“ durchs Alltagsleben. In kurzen, zunächst zusammenhanglosen Geschichten erzählt die in Weimar geborene Autorin von Kibbuzbewohnern nahe Tel Aviv, gelangweilten Industriellentöchtern, von Peter, einem alten Hippie und von Helenas Suche nach Schönheit in den stinkenden Slums indischer Metropolen. Sibylle Berg hat mal wieder die unheimlichsten Höllen-Snapshots zusammengestellt und gewonnen. Groß, unheimlich, dunkel und packend. Für Cowboys des Alltags. (Sibylle Berg: „Die Fahrt“, KiWi, 18,90 Euro)

Robert Altmann gewinnt 6,2 Millionen im Lotto und sucht von nun an das kleine Glück im großen Reichtum. Der Werbetexter, Gelegenheitsautor und notorische Pleitier avanciert jedoch nicht zum Jackpotkrösus. Er hält erst einmal die Klappe und wartet, Pfifferlinge putzend, auf seine Frau Regina. Bloß nicht übermütig werden, denkt er und setzt Nudelwasser fürs Candle-Light-Dinner auf. Aber Regina kommt nicht. Tatsächlich stellt ihn seine „süße Wespe“ via SMS vor bittere Tatsachen: Sie hat einen Liebhaber und möchte sich scheiden lassen. Robert verliert im Augenblick größter Euphorie den wichtigsten Menschen seines Lebens. Und er reagiert darauf ebenso überstürzt wie klug. Regina erfährt nämlich nichts vom Millionengewinn. „Auf gar keinen Fall. Ich würde ihr nicht mehr trauen, wenn ich es täte. Unmöglich.“ Er macht sich auf die Reise Richtung Italien. Roadmovie und Romanze: Thommie Bayer hat viele Kreuzchen an der richtigen Stelle gesetzt.“ (Thommie Bayer: „Eine kurze Geschichte vom Glück“, Piper, 215 Seiten, 16,90 Euro)

„Heute machen’s wir andersrum. Sie sitzen hinten und ich am Steuer.“ Der joviale Politiker Schellenbaum kutschiert an diesem unheilvollen Morgen seinen Fahrer Raab durch die Stadt, er vertauscht für einen kurzen Moment die Machtrollen. Minute später fährt er den mittellosen Drehbuchautor Ladislav an. Der junge Mann liegt verletzt am Boden, während der mächtige Politiker hinter abgedunkelten Limousinenfenstern sitzt, abwartet. Symbolträchtige Unfälle dieser Art können schnell Karrieren ruinieren. Damit aus diesem Fehltritt kein Presse-GAU erwächst, soll Raab den Verletzten bestechen, diese ärgerliche Sache schnell bereinigen. Ladislav lässt sich auf den Deal ein. Bis seine Freundin nachmittags darauf insistiert, dass ihr Liebster betrogen worden sei, dass man sich nicht abspeisen lassen dürfte von den Mächtigen. Ein unheilvolles Gewitter zieht hier auf. Denn hinter den politischen Kulissen walten ungeschriebene Gesetze. Das Schauspiel, das schon im ersten Satz des Romans kunstvoll angespielt wurde, beginnt mit den personifizierten Staatsgewalten und wird ein Kampf zwischen Wirklichkeitsmachern, dem mächtigen Politiker, dem ohnmächtigen Drehbuchautor auf entgegengesetzten Seiten und einer schwankenden Justiz dazwischen. Hochspannung für Regennächte. (Georg M. Oswald: „Vom Geist der Gesetze“, Rowohlt, 348 Seiten, 19,90 Euro)

Hugo Rifkind eröffnet im Pop-Roman die härtesten Clubtüren Londons, und alle dürfen Societyreporter Macauley Lewis auf die heißesten Promipartys begleiten. Er möchte in Stroboskop-Blitzlichtgewitter blicken und am nächsten Katermorgen ein paar Kolumnenzeilen für die Gazette tippen. Aber Langfinger, ein ehrenwerter Gentlemendieb alter Schule, torpediert mit furiosen Diamantecoups Lewis’ Karriere. Der verpasst das Aufmacherthema, recherchiert erfolglos hinter Langfinger her und erkennt zu spät, dass der Gesuchte ihm näher ist als angenommen. Die schillernde Boulevardgeschichte ist schnell, shiny, cool und liegt irgendwo zwischen MTV-Nachtprogramm und Teeniecomedy. Für stolpernde Sternchen. (Hugo Rifkind: „Überbelichtet“, Eichborn, 14,90 Euro)

Wer den Sommer mit einem Mix aus sanfter Romantik, anzüglicher Erotik und abschweifenden Fieberträumen beginnen möchte, greift am besten zu Ludvik Kunderas „el do Ra Da(da)“. Der Cousin von Tschechiens Bestseller-Autor Milan Kundera („Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins“) stellt sich hier mit Bildern, Gedichten Erzählungen vor. Seine Geschichten aus den 40ern lesen sich wie Kommentare aus den Neue-Mitte-Cafés 2007: „Monologe, zwischen denen hier und da ein Lächeln raschelt.“ Dieselbe Eitelkeit wie heute: Tatsächlich ist das apokalyptische Kriegsberlin, in dem der junge Tscheche zur Zwangsarbeit gezwungen wurde, das Berlin der Bomben, des Hungers, der Seuchen. Nach 1945 startete Kundera n Tschechien durch. Fünfundzwanzig Jahre später verhängten die Kommunisten ein Publikationsverbot gegen den subversiven Autor. Deshalb hören wir erst jetzt von ihm. „el do Ra Da(da)“ ist kraftvoll, faszinierend, bunt, glücklich-unglücklich wie Osteuropa in seinen romantischsten Augenblicken, poetisch, dann wieder wirr, dada, rauschhaft wie ein starker Sonnenstich. Für eitle Romantiker. (Ludvik Kundera: „el do Ra Da(da)“, Arco, 32 Seiten)

Blutrote Worte für blasshäutige Mädchen, gelesen von bleichen Jungschauspielerinnen: Das begeisterungswürdige Hörbuchquartett „Die Erzählerinnen“ präsentiert schwebende Kurzgeschichten der vier Autorinnen Juli Zah, Karen Duve, Franziska Gerstenberg und Jenny Erpenbeck. Es geht um melancholische Jungfrauen, ein verliebtes Mädchen mit Haarausfall und eine wilde Party mit „Jasmina & Friends“ in Sarajevo. Das oft bekannte, jedoch nicht weniger verzaubernde Fräuleinwunderszenario wird eingelesen von den bekannten Schauspielerinnen Katharina Wackernagel („Die Boxerin“, „Das Wunder von Bern“), Inga Busch („Alles auf Zucker“, „Die Manns“), Katharina Schüttler („Das weiße Rauschen“, „Die innere Sicherheit“) und Sandra Borgmann („Im Juli“). Für Pyjamamädchen. (Juli Zeh, Karen Duve u.a.: „Die Erzählerinnen“, Eichborn Lido & Hörkult Verlag, 4 CDs)

Dezember 2000 in einer kanadischen Kleinstadt: Der Postbote liefert ein trauriges Abschiedsgeschenk, „eine ganz prosaische Blechschachtel, überzogen mit einem schwarzen Lack.“ Der überraschte Empfänger, ein Wissenschaftler aus Jugoslawien, erhält die eingeäscherten Überreste seines verschwundenen Bruders – und erinnert sich. Der serbische Autor Vladimir Tasic erzählt in drei Kapiteln eine melancholisch gefärbte Balkangeschichte über Bruderliebe, ungewöhnliche Exilkarrieren, über die Sehnsucht nach großer, weiter Welt und großem, weitem Denken. Der früh verstorbene Bruder wird als Hochbegabter eingestuft, nutzt sein Talent aber nur für spitzfindige Streiche und Unsinnsdiskussionen, die jeden Lehrer in den Wahnsinn treiben. „Abschiedsgeschenk“ ist klug wie ein vollgepackter Zettelkasten, als hätte der Hochbegabte seinen eigenen Nekrolog verfasst. Das funktioniert an vielen Stellen – verdunkelt die sentimentale Geschichte aber ebenso wie ein wuchtiger Wohnzimmerschrank voller Pokale und Siegerurkunden. (Vladimir Tasic: „Abschiedsgeschenk“, SchirmerGraf, 190 Seiten, 17,80 Euro)

Die Band „Freaks“, von Joey Goebel im gleichnamigen Roman erdacht, besteht folgerichtig aus Verrückten: Luster, der afroamerikanische Sänger, Dante-Leser und absolut drogenfreie Spießer-Feind quatscht ständig weltverbessernde Kulturkanalweisheiten. Keyboarder Ray ist irakischer Ex-Soldat, schaut amerikanischen Männern lüstern in die Augen und lässt sich von der achtjährigen Ember (Baß) beim ersten Treffen windelweich prügeln. Das hyperaktive, Menschen mt Feuerzeugen anzündende Kind wird wiederum betreut von Gitarristin Opal, einer 80-jährigen Sex-Pistols-Oma, die nebenbei junge Kerle flachlegt. Drummerin Aurora ist bildschöne 19, asexuelle Ex-Stripperin, und freiwillige Rollstuhlfahrerin. Joey Goebels Figuren sind genial, die Handlung noch atemraubender. Er schickt seine Freaks durch ein unglaubliches Zapping, und den Leser in Sterbetherapien, White-Trash-Wohnungen, Kung-Fu-Kurse, mit furiosem Konzerthöhepunkt und freakigem Talkshow-Epilog. Schneller, witziger, noch lesenswerter als Goebels „Vicent“ von 2005. (Joey Goebel: „Freaks“, Diogenes, 190 Seiten, 15 Euro)

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