Rezension: Aufruf zur Diktatur

Gerade erst echauffierte sich der der radikale Provokateur Jonathan Meese (42) während einer Diskussionsrunde des Magazins „Spiegel“ gegen die schon bald anlaufende „Documenta (13)“ in Kassel. Er verunglimpfte Maler und Bildhauer, nannte Kunststudenten   „Hämorrhoiden im Arsch des Staates“ und antwortete auf die Frage„ ob die Documenta besser sei, wenn er ebenfalls eingeladen würde: „Wenn man nur mich bringen würde, eventuell.“ Der Kunstskandal war da. Am Ende fegte ein Besucher Gläser vom Tisch. Auf Facebook folgten ironische Reaktionen, wie vom Hildesheimer Professor Stephan Porombka, der kommentierte: „Unter Meese war nicht alles schlecht.“ Es ist die vermutlich beste Haltung Meese gegenüber, der von seiner eigenen Kunstbenutzung sagt: „Ich nehme ein Buch nie persönlich. Ich nehme es nur als Angebot wahr.“

JB-20090606-Meese-wikipediaDeshalb wird jetzt niemand verpflichtet, seinen 662-Seiten-Ziegel „Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst“ persönlich zu nehmen, oder: gar zu lesen. Meese macht es in einem ARTE-Interview vor: blättert, riechen, Seiten küssen – das reicht. „Weil die meisten, die‘s lesen, die missverstehen es eh.“ Das bezog sich bei ihm zwar auf das Werk „Sein und Zeit“ von Philosoph Martin Heidegger. Aber warum sollte es nicht ebenso für Meeses „Ausgewählte Schriften“ gelten?

Das Buch riecht nach Papier und Druckerfarbe. Die Seiten, die man küsste (zum Beispiel 354/355 über Nautilus, den Erzagitator, Haistücke und TUMULT), kleben anschließend aneinander, und dass man es lesend nur missverstehen kann, zeigen Sätze wie diese: „Kunst ist die Formation de Erzes (Saaltanz). Kunst ist das totalste Gespensterschloss.“ Wer sich auf Jonathan Meese und seine Bilder, Performances, Texte einlässt, der begegnet Hitler, den Mumins, Propagandadaddy, Dr. No. Sie alle bevölkern die irr-wirre Welt dieses Mannes.

Meese zertrümmert unsere Vorstellungen von Kunst, will alles wegfegen, um Platz zu machen für eine angebliche „Diktatur der Kunst“ (nicht: des Künstlers), für eine Welt, in der man über Schauspielerin Scarlett Johansson sagen darf: „Maul auf, Lolly rein, Revolution raus. Scarlett Johanssons Mund ist immer neutral, ist eine Tierschnauze. Diktatorin der Schönheit, als Scarlettierbaby auch Saalatlantis.“ Das ist verrückt, kindisch, lustig. Darf man über Bilder lachen? Bei Jonathan Meese ganz bestimmt.

Jonathan Meese: „Ausgewählte Schriften zur Diktatur der Kunst“ Suhrkamp, 662 Seiten, 29,90 Euro / das Portraitbild ist von Wikipedia

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