Rezension: Abyssus intellectualis

Mit einem Sammelband über den „spekulativen Horror“ liefert der Berlin-Wiener „Hipster-Philosoph“ (taz) Armen Avanessian alternative Sichtweisen auf unsere Gegenwart. Doch was gewinnen wir mit dem beschleunigten Denken über die endgültige Katastrophe der Welt, mit dem Denken über das Ende der Menschheit/des Humanismus, mit Aufsätzen über Extro-SciFi und der „Askese des Pessimismus“? 

„In den westlichen Kulturen wird allgemein akzeptiert, dass man die Geburt feiert und den Tod betrauert, Aber da muss ein Fehler vorliegen. Würde es nicht mehr Sinn ergeben, die Geburt zu betrauern und den Tod zu feiern? Sonderbar wäre das allerdings insofern, als diese Geburtstrauer eigentlich das ganze Leben der Person über andauern müsste, sodass Trauer und Leben ein und dasselbe wären.“ (Eugene Thacker)

Frühjahr 2014: Gerade noch war Armen Avanessian gemeinsam mit Kollegin Anke Hennig an der Bergischen Universität in Wuppertal und sprach über das „Tempus als historische und erzähltechnische Kategorie“ (im Rahmen einer Vortragsreihe des Zentrums für Erzählforschung). Wenig später saß er schon im Flugzeug, auf dem Weg zu einer Vortragsreise in den USA. Ich hatte mir die Wuppertaler Veranstaltung angesehen, weil das Feuilleton inzwischen randvoll ist mit Berichten über Armen Avanessians Forschung. Mir ist, als erschiene wöchentlich ein neues Buch von ihm (tatsächlich „nur“ alle fünf Wochen, auf das Jahr 2014 bezogen). Sein Merveband „‚#Akzeleration“ war binnen eines Monats ausverkauft.

41U6NonuwPL._SY445_Der umtriebige, schnell denkende, schnell sprechende, schnell schreibende Forscher ist Herausgeber der neuen „Spekulationen“-Reihe von Merve. Er bloggte im Herbst 2013 bei #60pages über Diderot, Schreibblockaden und Katastrophendenken. Kurz gesagt: Sein Mauern abreissendes Denken übt Faszination aus.

Das alles ist Teil des umfassenderen Projekts einer „Spekulative Poetik“. Hier soll das sprachfundierte poststrukturale Denken der letzten Jahrzehnte mit dem zeitgenössischen Denken an Ontologie verknüpfen werden. Oder knapper, mit den Worten Armen Avanessians aus einem Interview, das ich Ende April in Berlin geführt habe: „Viele Interessante spekulative Denker wenden sich heute ab vom linguistic turn. Auch für mich gilt nicht mehr, dass die Grenzen unserer Sprache einfach die Grenze unseres Denkens sind. Vielmehr ist es so dass komplexer unsere rekursiv strukturierte Sprache ist, desto mehr Realität kann sie fassen – und umgekehrt. Das ist die Grundidee einer Sprachontologie.“

Zu den Publikationen und Neuentwürfen einer „spekulativen Poetik“ kommt die Beschleunigung im biographischen Sinne. Philosophische Debatten werden auf Facebook oder Twitter mit Kollegen aus Ägypten, Schottland, Israel geführt. Es gibt keine Berührungsangst gegenüber neuen Kommunikationstechniken. Armen Avanessian trägt bei Vorträgen auch mal Hoodies. Zum Interview erscheint er mit audiophilen Bowers & Wilkins-Kopfhörern. Vielleicht kommt daher auch die Vermutung, er sei ein „Hipster“-Philosoph.

Auch wenn Armen Avanessian dieser Zuschreibung sanft widerspricht und man genauso gut annehmen kann, dass Hoodies schlichtweg bequem und anständige Kopfhörer komfortabel sind: „Nur weil die anderen unmodisch sind, bedeutet das im Umkehrschluss nicht, dass ausgerechnet ich ein Hipster bin. Mein wissenschaftliches Selbstwertgefühl ist relativ intakt. Ich muss mich mit soetwas nicht identifizieren. Schließlich schreibe ich auch literaturtheoretische Monographien oder sprachphilosophische Studien, die eben nicht hip sind.“

Hip, wenn überhaupt, ist die Tatsache, dass sich Schriftsteller Rainald Goetz für den Spekulativen Realismus begeistert, dass er Armen Avanessian besucht, dass sie gemeinsam diskutieren. Hip sind eben „#Akzeleration“, „Realismus, jetzt“ oder das gerade erschienene „Speculative Drawing“, entstanden mit Grafiker Andreas Töpfer, der des öfteren während Vorträgen von Armen Avanessian zeichnet und der Theorie seine Bilder hinzustellt. Hip waren aber je nach Zeit auch Paul Virilio (noch so ein Beschleuniger), Slavoj Žižek, immer wieder Jacques Lacan, die mal mehr, mal weniger in der Popkultur bzw. in die Literatur von Rainald Goetz aufgegangen sind: was oft das Gleiche ist. Gerade besonders „in“ oder hip oder vieleicht einfach nur zeitgeistig interessant ist Thomas Piketty, der gar nicht so weit vom #Akzelerationismus entfernt ist.

In mehrwöchiger Lektüre habe ich etliche Bände von Armen Avanessian gelesen. Dazu angetrieben hatte mich ganz zu Beginn ein Absatz über die Auslöschung der Sonne (hier geht es zum 1LIVE Plan B-Beitrag mit Ingo Schmoll, der ersten Folge meiner Neugierde). „Die Auslöschung der Sonne ist eine Katastrophe, eine zum Niedergang führende oder überwältigende Wendung (kata-strophé), weil sie den terrestrischen Horizont jeder zukünftigen Möglichkeit ausradiert, in Bezug auf die sich die menschliche Existenz und mithin das philosophische Fragen orientiert haben.“

Was Ray Brassier in seinem Aufsatz „Solare Katastrophe: Die Wahrheit der Auslöschung“ schreibt, ist nicht unbekannt. Es gibt eine Theorie, von der ich erst vor wenigen Tagen hörte. Diese besagt, dass man die Erde mit allen Atombomben zerstören könnte. Dennoch hätte die Menschheit bis zur besagten Auslöschung durch das Ende der Sonne mehr als zweimal die Möglichkeit neu entstehen. Die Erde hat ausreichend Zeit, sich zu regenerieren, neues Leben zu bilden. Das Gewaltige, was Ray Brassier, der in Beirut lehrende Philosoph hier eröffnet ist die Idee, dass die Philosophie bislang nur bis zur terrestrischen Grenze bzw. bis zum individuellen Tod gedacht hat. Das philosophische Denken ändert sich aber radikal, wenn man vor dem Hintergrund der Sonnenauslöschung denkt (oder eben der Möglichkeit, dass unser scheinbar zufälliges Dasein mehrmals wiederholbar ist).

An solchen Stellen beginnen jene Gedankenspiele, die aus unterschiedlicher Feder abgedruckt sind im leuchtenden „Abyssus Intellectualis“, erschienen in der Merve-Reihe „Spekulationen“ (der Band leuchtet tatsächlich: er ist mit roter Nachtleuchtfarbe angestrichen). Besagte Merve-Reihe setzt sich laut Selbstbeschreibung auseinander mit „intellektuellen und theoretischen Strömungen, die sich seit einigen Jahren auf sehr heterogener Weise anschicken, neue Modi philosophischen Denkens zu erproben“. Das Denken vor dem Hintergrund der Sonnenauslöschung ist eines dieser neuen Modi.

Was kommt nach der Postmoderne, wie funktioniert was man mit Avanessian auch ein altermodernes Denken nennen könnte (bei Claus Moser gibt es einige Hinweise dazu)? Es ist eine Frage, die mir ständig in der Graduate School in Münster begegnet, wo u.a. relativ hartnäckig auf Foucault rumgekaut wird). Jedenfalls, eine dieser theoretischen Strömungen ist der „Spekulative Realismus“, der quasi als Fortsetzung des „Radikalen Konstruktivismus“ Möglichkeitshorizonte bereitstellt.

Vor diesen Möglichkeitshorizonten können alte Texte als neue gelesen werden, Man kann ihre „Seltsamkeit“, wie es Graham Harman im Buch beschreibt, neu entdecken. Es ist ein Denken, das unabhängig ist von jener Deutungsevolution, die bei der Ausbildung junger Philosophen felsenfest berücksichtigt wird, obwohl alle großen Werke der Philosophie blinde Flecken, nicht interpretierbare Stellen, Merkwürdigkeiten haben.

Ebenso können mit dem Denken des Spekulativen Realismus’ gängige Erscheinungen uminterpretiert oder ikonoklastische Strategien durchgespielt werden. Kurz: Das ist intellektueller Punk. Das gefällt mir. Dieses Denken „zeichnet sich durch die Fähigkeit aus, wissenschaftliche Erkenntnisse als philosophische Ressourcen zu nutzen, durch eine Orientierung am Absoluten und nicht zuletzt durch die Suche nach zeitgemäßen Widerstandsformen, Fluchtwegen oder Freiräumen.“ (8) „Der Spekulative Realismus zieht aus der offenkundigen Nähe von Realismus und Horror die philosophische Konsequenz, dass unsere Normalität am ehesten noch aus dem Phantastischen und Seltsamen heraus zu verstehen ist.“ (22)

Auf einmal werden (ich wiederhole mich absichtlich) sowohl der persönliche Tod, als auch der terrestrische Horizont als Grenze des Denkens irrelevant, wenn bedacht wird, dass die Erde irgendwann nicht mehr existiert, „wenn in ungefähr 4,5 Milliarden Jahren die Sonne ausgelöscht und damit die ,Ur-Arche‘ eingeäschert, das ,Sich-Verschliessende‘ ausradiert und ,das Deterritorialisierte‘ verdampft sein werden“, bzw. noch weitergedacht: „wenn in ungefähr einer Billion mal Billion mal Billionen (10 hoch 1728) Jahren, die zunehmende Expansion des Universums den Stoff der Materie selbst auflöst und damit der Möglichkeit von Verkörperung ein definitives Ende gesetzt haben wird. Jeder Stern im Universum wird ausgebrannt sein, was den Kosmos in einen Zustand absoluter Finsternis versetzen und nichts als verbrauchte Hüllen kollabierter Materie hinterlassen wird.“

Das ist wieder Ray Brassier, der sich hier auf ein bislang unbewiesenes Modell bezieht. Oder mit den Worten Quentin Meillassoux’: „Es existiert keine Erfahrung der Zukunft. Wie also die Gewissheit, dass die Natur heute genauso wie morgen den bekannten Gesetzen folgen wird, auf Erfahrung begründen?“ (131) Dennoch: „Was, wenn es den Menschen eines Tages nicht mehr gibt? Wird dieses Möglichkeit nicht mit jedem Tag plausibler?“ (Armen Avanessian und Björn Quiring im Vorwort, S. 10)

Genau das ist der Abgrund des Denkens (es gibt die unheimliche Novelle „Der Abgrund des Endlichen“ von Hartmut Lange, die mich längst beschäftigt. Armen Avanessian: „Horror entsteht genau dann, wenn Unterscheidungen, die für unser Weltverhältnis unverzichtbar sind, sich verschieben oder als haltlos erweisen“. Das ist eine starke Definition, zeigt sie doch beispielsweise das Unbehagen, das eine Sibylle Lewitscharoff befällt, wenn sie daran denkt, wie der Mensch heutzutage in der Lage ist, Anfang und Ende des Lebens zu manipulieren (durch PID und Befruchtung bzw. durch Intensivmedizin und Sterbehilfe). „Dahinter steckt eine Vorstellung von Natürlichkeit, die es nie gegeben hat“, sagt Armen Avanessian während des Berliner Interviews (wir stehen draußen und rauchen eine Zigarette) und belegt damit auch, wie fatal Denken werden kann, wenn simple Kenntnisse über die technische Evolution der Menschheit fehlen.

Vor genau diesem technischen, wissenschaftsfiktionalen Denken schreckt der Spekulative Realismus nicht zurück. Graham Harman: „Denn abgesehen von der Wissenschaft selbst hat nichts mehr Ähnlichkeit mit Science Fiction als die Philosophie. Seit ihrem Aufkommen im antiken Griechenland hat die Philosophie merkwürdigen Vorstellungen stets Zuflucht geboten“ (85) Zu diesen „merkwürdigen Vorstellungen“ gehört dann auch: „Woher wissen wir überhaupt, dass unsere Unterscheidung von Tod und Leben für die Dinge dieser Welt wirklich relevant ist“ (10) Quentin Meillassoux: „Das Verhältnis des Menschen zur Welt hat sich aufgrund einer Veränderung der wissenschaftlichen Erkenntnis gewandelt (…) Folglich vertritt alle Science Fiction implizit dieses Axiom: In der antizipierten Zukunft wird es noch immer möglich sein, die Welt einer wissenschaftliche Erkenntnis zu unterwerfen.“ (127)

Dass bereits Nietzsche bekannte, „hüten wir uns zu sagen, dass Tod dem Leben entgegen gesetzt sei: Das Lebende ist nur eine Art des Todten, und eine sehr seltene Art“ (50) erwähnt Ray Brassier. Deleuze sieht im Tod nicht die Annulierung zeitlicher Differenz, sondern erkennt den Tod als „ein Tor zu einem virtuellen Bereich schöpferischer Individuation“ (62) Was wäre, wenn ein dämonischer Gott unser leben allein vortäuschte? (11) Es ist der blanke Horror: Fast alle Philosophen der 2007 namengebenden Konferenz des „Spekulativen Realismus“ haben über Horror gearbeitet, haben sich mit Schauergeschichten befasst, deren Motive als „verfallene Theologumena, als theologische Topoi im Zustand des Ruins“ (13) begriffen werden können. „Die Bilder, die im Horror wurzeln, müssen das Nicht-Filmbare, Nicht-Repräsentierbare und Unbewusste aufrufen.“ (201) Es ist die Vorstellung des Horrors „als Artikulation eines sich unserem Zugang stets entziehenden Realen“ (Amanda Beech, 22).

Man kann sich stabilere Welten als die von Kant beschriebene und von der Wissenschaft durchdrungene vorstellen (148), man kann neue Ordnungen oder direkt das Chaos entdecken (153), man kann die „Nachtseite der Gedanken“ (275) im Pessimismus finden, wenn das Scheitern nicht eine Frage des „ob“, ist sondern allein der zeit, wann es eintritt (280) Die letzten beiden Sätze stammen, ebenso wie das eingangs zitierte Gedankenspiel von Eugene Thacker, der als Schriftsteller und Literaturwissenschaftsprofessor in New York lebt. Und er zeigt, dass die Ideen des „Spekulativen Realismus“ nicht im Nirgendwo wurzeln. Die Geburt als Beginn der Trauer, das Scheitern als Vorsehung, das gibt es nicht erst seit 2013/14. Man muss nur zurückblicken, ins Hochmittelalter, zu einem der größten Werke der deutschsprachigen Literatur, zu Gottfried von Straßburgs „Tristan“. (Wirklich empfehlenswert ist übrigens Claudia Konetzkes Arbeit über „Minne und Melancholie – Zur Konzeption der Tristanfigur Gottfried von Strassburgs“, die leider nie veröffentlicht wurde und nur über die universitäre Bibliotheksausleihe handhabbar ist). – Morgen stelle ich an dieser Stelle Armen Avanessians #Akzeleration vor und spreche mit ihm über seine Zeit in Paris, über politische Häresie und den Technonolgieanalphabetismus der „Grünen“.

Armen Avanessian, Björn Quiring (Hg.): „Abyssus Intellectualis – Spekulativer Horror“, Merve, 298 Seiten, 25 Euro / Armen Avanessian, Andreas Töpfer: „Speculative Drawing“,  Sternberg Press, 322 Seiten, 19 Euro (die Zeichnungen sind mit freundlicher Genehmigung von Andreas Töpfer abgebildet)

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2 Kommentare

  1. […] School“ stattgefunden hat, unter anderem veranstaltet von Armen Avanessian. (über den bereits hier etwas in LesenMitLinks […]

  2. […] Elizabeth Ellen. Der LesenMitLinks-Blog schaut nun zum Spekulativen Realismus, startend mit diesem Abyssus Intellectualis-Text um meinem Armen Avanessian-Portrait im Freitag. Dienstag kommt  um 20 Uhr der irre Linus Volkmann […]

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