Rezension: 1000 Mann über Bord

„Das Wasser war überall. In den Städten, den Straßen, den Häusern, zwischen den Dielen, auf den Dachböden.“ So beginnt Frans Pollux‚ Roman über katastrophale „Tage der Flut“.

Während der UN-Klimarat überlegt, wie stark die Meere bis 2100 ansteigen werden, begeistert der niederländische Singer-Songwriter Frans Pollux mit seinem großen Roman „Tage der Flut“. Binnen Minuten setzt hier eine riesige Tsunamiwelle die Welt unter Wasser und bestätigt die apokalyptischen Sorgen aller Küstenländer: „Deiche brechen richtig / Oder eben nicht.“ – Hier brechen sie und wie im Lied „Deiche“ der Hamburger-Schule-Band Kettcar verknüpft Frans Pollux in seinem Roman Umweltkatastrophe und Kapitalismus.

„Das Wasser war überall. In den Städten, den Straßen, den Häusern, zwischen den Dielen, auf den Dachböden.“ So beginnt diese in naher Zukunft spielende Geschichte über eine Katastrophe. Diese Sintflut setzt binnen Minuten das komplette Land unter Wasser und lässt allein zurück: Syris, Steuerfahnder der neuen europäischen Freihandelszone, der mit zwei Partygästen über das Urmeer treibt, auf der Suche nach einem Arzt. Seine Freundin stirbt, getroffen vom Unwetterblitz, Schatten ihrer selbst. Oder ist sie längst tot? Atmet sie? Gibt es Hoffnung?

Syris hat jetzt viel Zeit, nachzudenken und sich aus Verschwörungstheorien eine Erklärung zu basteln für den immer weiter steigenden Pegel. Plötzlich hinterfragt er den mysteriösen Tod seiner Gattin, die sich ins Gesicht geschossen hat – oder doch ermordet wurde? Er fühlt sich, irr vor Durst, rückwirkende in einen Agentenfilm hineinversetzt, beobachtet, seit Monaten. Er klaubt aus Erinnerungen eine Begründung, die doch nur sagen kann: Wir sind allein. Auf Hilfe hoffen ist vergebens. Oder gibt es eine Chance, irgendeine?

Frans Pollux‘ Helden, die hier in einem Boot auf den Wellen treiben, sind ohne es zu wissen, Opfer der frei flottierenden Globalwirtschaft. Nicht zufällig ist ein Steuerfahnder der europäischen Freihandelszone darunter, der gerade eben noch mit seinen Freunden eine ausgelassene Party gefeiert hat. Er und seine Freunde sind nun in diesem Schlauchboot, in einer Nussschale, gefangen und was der Kapitalismus bislang unterband, bricht wie ein kalter Regenguss auf den Mann ein.

„Tage der Flut“ spielt in der nahen Zukunft. Die USA sind bankrott. Obdachlose irren durch New York. Die Wall Street ist ein heruntergekommener Basar. Aktien werden hier nicht gehandelt. Präsident Leonardo DiCaprio bittet Europa um Aufbauhilfe. Staatsinstitutionen wie die Polizei sind privatisiert. Die so oft gepriesene, globalisierte Freihandelszone (freier Markt für freie Bürger) hat die halbe Welt ins Elend gestürzt.

Das Kapital herrscht wie einst Kaiser Nero, der in Legenden bezichtigt wird, im Jahr 64 nach Christus Rom in Brand gesteckt zu haben. Das Kapital scheint in „Tage der Flut“ nicht anders zu verfahren – langsam, während der Held die letzten Jahre rekonstruiert, wird deutlich: Hinter dieser Sintflut, hinter dem kalten Tod mehrerer Millionen Menschen steckt Unheimliches mehr als nur ein Klimaexodus.

In der Bibel bestraft die Sintflut den Hyperkonsum, das Fressen und Huren aller Menschen. „Die Erde war vollkommen verdorben, denn alle Menschen waren vom rechten Weg abgekommen“, steht im Buch Mose. Genauso ist der heutige Anstieg des Meersspiegels menschengemacht, entstanden durch zu viel industrielle Produktion und die nun langsam drohende Sintflut direkt im Kapitalismus und im Immer-Mehr-Wollen begründet. Der Kapitalismus stellt sich auf den Anstieg des Meeresspiegels ein: Von den Flutberechnungen des UN-Klimarats sind die Freigabe von zig Milliarden Euro für eventuell notwendige Küstenschutzprogramme abhängig. Es geht also auch hier, im Angesicht der Flut: Um Geld.

Kettcar singen in „Deiche“ ebenfalls in Flutmetaphern vom Kapitalismus, von den Gewinner und Verlierern des Kapitalismus („Der Kuchen ist verteilt, die Krümel werden knapp.“) – Und der sehr geschickt konstruierte Roman „Tage der Flut“ verbindet, in gleicher Traditionslinie stehend, Flut, Deichbruch und Wirtschaftsinteressen, in einer Mischung aus Wissenschaftsthriller, Umweltapokalypse, Science Fiction und Verschwörung. Das ist gelungen, schnell lesbar, unheimlich.

Frans Pollux: „Tage der Flut“, übersetzt von Christiane Kuby, Aufbau, 408 Seiten, 19,95 Euro

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