The Scared is scared

„Wie viele Ziegen sind noch da?“, fragte der Alte. „Drei. „- „Der Bock zählt nicht?“ – „Der ist verschwunden.“ Seufzend schloss der Hirte die Augen. „Haben sie den auch aufgeschlitzt?“ – „Ich weiß nicht, hier sind nur tote Ziegen.“

Dieser knappe Dialog steht ziemlich genau in der Mitte des Buchs. Auf den hundert Seiten zuvor ist ein Junge ausgerissen. Er ist, so scheint es, auf der Flucht vor seinen Eltern, er versteckt sich vor der Polizei, seltsame Häscher sind hinter ihm her. Er irrt durch die Berge, trifft auf diesen alten Ziegenhirten, wandert mit ihm, schläft neben ihm ein, lässt sich von ihm mit Räucherwurst und Fladen durchfüttern. Warum gelingt inmitten der ultimativen Bedrohung diese intime Zweisamkeit, die wirkt, als würde dem Jungen erstmalig Freundlichkeit entgegengebracht, Wärme, Geborgenheit geschenkt?

Autor Jesús Carrasco benutzt nur das Allernötigste, um seine Story zu erzählen. „Die Flucht“ ist Piktogramm-Literatur, aus ganz wenigen Strichen bestehend. Wann diese Flucht geschieht, ob vor zehn Tagen, vor hundert, vor zweihundert Jahren, ist auf den ersten 150 Seiten ebenso wenig herleitbar, wie der Ort dieser literarischen Parabel (der bis zum Ende vage bleibt).

Faszinierend ist, wie Jesús Carrasco seine Erzählung so stark wie möglich entgrätet, wie er alles rausschält, freilegt, jedes überflüssige Wort, alle „Darlings“ gestrichen haben muss. Denn es gehört zu den großen Herausforderungen eines jeden Erzählers, das rechte Timing, die recht austarierten Informationen miteinander zu verweben, sodass man alles versteht, aber nicht durch Überflüssiges gelangweilt wird.

Aktuell kursiert ein sehr niedliches Video der Regisseurin Bianca Giever, die eine Sechsjährige gefragt hat, wovon ihr nächster Film handeln soll. Die schnell wechselnden, sich immer wieder überschlagenden, inkonsistenten Beschreibungen der Kleinen hat Bianca Giever in „the Scared is scared“ auf ebenso reizende wie verwirrende Weise umgesetzt. Es zeigt einerseits, wie problematisch Erzählen werden kann, wie aber discours und historie derart gegeneinander laufen können, ohne ein Verstehen zu verunmöglichen.

Jesús Carrascos „Die Flucht“ ist auf beiden Ebenen meisterhaft gestaltet. Wie der Junge durch die unwirtliche Ödnis irrt, sich irgendwann für seinen Beschützer in Lebensgefahr bringt, wie er zwischen Furcht und Zutrauen auf geradezu rührende Weise wechselt – das ist meisterhaft geglückt. Wovon erzählt also „Die Flucht“? Von den Gegensätzen Gier und Freigiebigkeit, von Jäger und Gejagtem, der „Möglichkeit einer Insel“ inmitten des Abscheulichen? Oder ist es doch nur ganz einfach, und es geht um Hunger, Durst, Brunnen, Brot, Tiere? Es sind 200 Seiten mit viel Weiß und wenig Dekoration.

Der Junge wird sich irgendwann entscheiden müssen: „Er wusste, egal, was er tat, er würde eine Todsünde auf sich laden. Ihm stand das Bild des Priesters auf der Kanzel vor Augen: das vergilbte Messgewand, der erhobene Zeigefinger, die Wölbung seines Bauches und der Geifer, der auf die Gläubigen herabregnete. Der Gerechte und der Pharisäer, der Weise und der Narr, der Sanftmütige und der Tyrann, die Mutter und die Hure. Die Kategorien, die zu umreissen schienen, was dem Herrn wohlgefällig war und was nicht. Predigten die ihn nicht zu überzeugen vermochten. Er dachte, die Hölle, die ihn am Ende seiner Tage erwartete, könne kaum schlimmer sein als sein leidvolles Leben. Der Höllenschlund voller schwarzer Seelen könne genauso gut diese ausgebrannte Ebene mit ihrer Horde elender Sünder sein.“

(Jesús Carrasco: „Die Flucht“, übersetzt von Petra Strien, Klett-Cotta, 202 Seiten, 18,95 Euro)

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1 Kommentar

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