Rezension: Besuchbar und buchbar

Jan Costin Wagner schreibt mit „Tage des letzten Schnees“ seine Kimmo Joentaa-Krimis fort. Das Buch erzählt von einen Amokläufer, von übersexualisierten Bankern im Börsenrausch, mehreren Morden und einem Blitz, der Leben in Tod verwandeln kann. Zu  viel Stoff für 300 Seiten?

„Denkst du, ich statte das Ungeziefer, das versäumt hat, mir zur rechten Zeit RESPEKT zu zeigen, mit Waffen aus? Bin ich JESUS, ja? Bin ich Jesus oder GOTT? Jesus oder GOTT? Denkst du, ich werde die kleinen Lichter bewaffnen, die gar nicht wissen, wo der Knopf zum Abdrücken ist, die sich eher selbst erschießen, bevor sie mich treffen, denkst du, ich werden den kleinen Lichtern helfen, die mich VERACHTEN?“ – Ein Bewunderer des Amokläufers Anders Behring Breivik echauffiert sich im Chat über die „kleinen Lichter“ und ist selber eines. Doch scheint ihn die Berichterstattung über den norwegischen Massenmörder, der 2011 in Norwegen 77 Menschen ermordete, motiviert zu haben. Schaut man durch die Artikel im Netz, stehen da Zuschreibungen wie „blonder Teufel“ (Bild), „human monster“ (Guardian) „Bestie von Oslo“ (heute.at). Was den gewöhnlichen Leser abschreckt, ist für andere Ansporn, es Breivik nachzumachen – jedenfalls im neuen Krimi um den finnischen Kriminalkommissar Kimmo Joentaa, den Jan Costin Wagner mit „Tage des letzten Schnees“ zum vierten Mal ermitteln lässt.

Vom geplanten Amoklauf ahnt Kimmo Joentaa zunächst nichts. Er ist eingeteilt, jenen mysteriösen Autounfall zu untersuchen, bei dem ein kleines Mädchen ums Leben gekommen ist. Das Ganze erinnert an die Urban Legend vom Geisterauto, das nachts wildfremde Fahrer von der Straße drängt: Lasse Ekholm holt seine Tochter Anna vom Eishockeytraining ab, fährt auf der komplett leeren Landstraße. „Lasse Ekholm sah ein Licht, er spürte es mehr, als dass er es sah, es war in seinem Rücken, es kam plötzlich, und es schien ungewöhnlich hell. Er drehte sich wieder zu Anna um, die immer noch lachte, und im letzten Moment glaubte er, eine Irritation in ihren Augen wahrzunehmen. (…) Er hatte den Eindruck, einen Blitz zu sehen, der direkt neben ihm einschlug, neben dem Wagen, in dem sie fuhren, ein lautloser Einschlag, der das Gleichgewicht, in dem sie eben noch gewesen waren, ins Wanken brachte und schließlich aufhob, und dann versuchte er, gegenzusteuern, weil er begonnen hatte, gemeinsam mit Anna, die er nicht mehr sah, in einem leeren Raum zu schweben.“

Anna wird sterben, ihr Vater schwer verletzt überleben. Dass ihr Crash in Beziehung steht zu dem später geplanten Amoklauf und zu den orgastischen Erlebnissen einer Gruppe übersexualisierter, verrohter Banker wird Kommissar Kimmo Joentaa anfangs nicht ahnen.  Er steht einerseits dem Verlust eines benommenen Bekannten gegenüber, und befindet sich selbst in einem Gefühlsvakuum, weil seine Freundin Larissa verschwunden ist. Die Schilderung des Unfalls ganz zu Beginn deutet an, in welchem Raum „Tage des letzten Schnees“ spielt: in der Schwebe zwischen dem Blitz und dem Aufprall, zwischen Leben und Tod, zwischen Besitz und Verlust. Darum geht es die ganze Zeit: Um den Verlust von Geld beispielsweise, wenn Aktienfonds abstürzen, Fusionen Probleme bereiten. Banker lenken sich in Saunaclubs ab, gebärden sich wie Kleinstkopien des wegen Vergewaltigung angeklagten IWF-Direktors Dominique Strauss-Kahn: „Besuchbar und buchbar.“

Dummerweise verliebt sich der Stillste von ihnen in eines der Mädchen. Es geht um den Verlust von heiler Familie, nicht nur durch Annas Tod, sondern auch wenn Sätze fallen wie: „Traurig war ich früher mal, so als Kind, als ich meinem Vater dabei zugesehen habe, wie er meine Schwester fickt.“ Kimmo Joentaa befürchtet, dass es an der Zeit ist, den Verlust seiner Geliebten zu akzeptieren. Larissa meldet sich schlichtweg nicht mehr. Es geht um den Verlust jeglicher Nächstenliebe, wenn ein Wahnsinniger aus Wut den großen Amoklauf vorbereitet und sich in kruden Chats zur Zerstörung, zur Schlechtigkeit der Welt, zum Hass und Morden bekennt, Anders Behring Breivik mit GOTT gleichsetzt. Und sie alle sind auf unheimliche, erst zum Ende aufgelöste Weise miteinander verbunden. Es sind „Tage des letzten Schnees“, oder anders ausgedrückt: „Dunkelste Stunde vorm Sonnenaufgang.“ Atemraubender, sehr stiller, großartig gestalteter Krimi, vermutlich der beste aus der Kimmo-Joentaa-Reihe von Jan Costin Wagner.

Jan Costin Wagner: „Tage des letzten Schnees“, Galiani, 312 Seiten, 19,99 Euro / das Hörbuch in gekürzter Lesefassung gibt es bei Argon)

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1 Kommentar

  1. […] dass es da draußen viel Qualität gibt – auch was deutsche Krimis betrifft. Ich nenne da spontan Jan Costin Wagner (Coverausschnitt), Horst Eckert, Norbert Horst und Tom […]

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